Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt
sich mit seiner Frau, vier Söhnen und drei Töchtern auf den langen und gefährlichen Weg nach Ungarn. Verwandte und Bekannte begleiteten ihn bis zum Dorfrand, Tränen flossen, Segenswünsche wurden erteilt, Warnungen und gute Ratschläge folgten, der eine oder andere steckte ihnen noch ein Heilkraut oder eine Tinktur zu. Dann sprach man mit dem Pfarrer noch ein gemeinsames Gebet, erhielt den Reisesegen, und dann entfernte sich die kleine Gruppe zusammen mit zwei anderen Familien in Richtung Ulm. Was würde sie ihnen bringen, die Reise ins Ungewisse?
Versprochen hatte ihnen der Werber glänzende Aussichten, verglichen mit den damaligen Lebensbedingungen in Hechenheim. Zuteilung von ausreichend Ackerboden, sechs Jahre Abgabenfreiheit, Bereitstellung von Vieh, landwirtschaftlichem Gerät und Material zum Hausbau. Er hatte auch ein Papier vorgewiesen, in dem das alles schriftlich festgehalten war, aber welcher Bauer konnte damals schon lesen? Auf dem Weg nach Ulm hatten sich ihnen noch weitere Auswanderer angeschlossen. In Ulm angekommen, mussten sie ihre Papiere überprüfen lassen und die Hälfte der Reisekosten an die Schiffseigner bezahlen. Eine Unterkunft galt es zu finden und dort so lange zu warten, bis ein Schiff abfuhr, auf dem sie mitfahren konnten, donauabwärts, zunächst bis Wien. Ulm war damals eine reiche Handelsstadt und stand in geschäftlichen Verbindungen mit einer Reihe anderer Städte. Eine der bekanntesten von ihnen war das durch größte Anstrengungen vor der Eroberung durch die Türken gerettete Wien. Die Schiffe der Ulmer, Zillen genannt, fuhren mit ihrer Fracht flussabwärts. Es waren flache Kähne, die entweder am Zielort verkauft wurden, um das Holz zu verwerten, oder sie wurden mit neuer Fracht beladen und flussaufwärts von Pferden gezogen. Man nannte das „treideln“.
Ulmer Schachteln
Für die Auswanderer wurden diese Zillen mit kastenähnlichen Aufbauten versehen, die den Menschen und ihren wenigen Gepäckstücken Schutz gegen Wetterunbilden boten. Wegen dieser Aufbauten wurden die Auswandererschiffe auch „Ulmer Schachteln“ genannt. Sie wurden von der Flut der Donau angetrieben und durch zwei sehr lange Ruder gesteuert, die auf dem Dach der „Schachtel“ postiert waren. Dabei galt es, Strömungen und Stromschnellen zu meistern und Untiefen zu vermeiden. Die Abfahrt von Ulm war ein öffentliches Ereignis. Viele Schaulustige versammelten sich, aber auch nachgereiste Verwandte und Bekannte kamen zu einem letzten Lebewohl. Eine Musikkapelle spielte auf und die Auswanderer gingen in Gruppen an Bord, etwa 30 bis 40 Personen pro Zille. Selbstverständlich wollten die Familien zusammenbleiben und auch Mitreisende, mit denen man während der Wartezeit Freundschaft geschlossen hatte, sowie bekannte Ausreisewillige aus Nachbardörfern, die man in Ulm getroffen hatte, sie alle versuchten, jeweils auf einem Schiff unterzukommen. Denn: In Gemeinschaft reist es sich leichter und in der Not kann man sich gegenseitig helfen. Das Wichtigste aber war, dass man in der neuen Heimat mit Bekannten zusammen ankommen und dort neu beginnen wollte. Als nach vielen Zurufen, Gedrängel und Geschiebe die verschiedenen Interessen befriedigt worden waren, oft auch durch ein Machtwort der Schiffsmannschaft, konnte die Reise beginnen. Die Fahrt bis Wien dauerte je nach Jahreszeit und Wetterlage ein bis zwei Wochen. In Wien kamen Kontrolleure der Kameralverwaltung, die die Auswanderung überwachten, an Bord der Schiffe und kontrollierten, ob nicht verbotener Weise verstecktes Geld oder sonstige Wertgegenstände mitgenommen und verheimlicht worden waren. Fand sich dergleichen bei jemandem, wurden die Sachen konfisziert und der „Übeltäter“ bestraft. Er konnte – nach vielem Bitten – froh sein, wenn er die begonnene Reise überhaupt fortsetzen durfte. Nachdem diese Angelegenheiten geregelt waren, musste die zweite Hälfte des Reisegeldes bezahlt werden. Bei diesem Aufenthalt wird vielen zum ersten Mal der Gedanke gekommen sein, dass die erwartete große Freiheit so groß vielleicht gar nicht werden würde. Nach einem Tag Aufenthalt, an dem die Auswanderer auch an Land gehen und Einkäufe machen konnten, ging die Reise weiter, wenn nicht Unvorhergesehenes dazwischenkam. – Es kam nichts dazwischen, kein Unglück, kein Überfall. Alle sind heil in Ungarn angekommen. Sie wurden in Werischwar/Pìlisvörösvár angesiedelt. Den Namen hatte der Platz von einer „Roten Plankenburg“, einer kleinen von den Türken errichteten Festung. Ein Dorf im üblichen Sinn war nicht mehr vorhanden. In einem Bericht an die Hofkammer in Wien von 1688 heißt es: „Werischwar ist ein von langen Jahren her ganz ruiniert und ödes Dorf, allwo die Türken einen Balanken gehabt.“ Ein Kenner der damaligen Situation bemerkte zu Werischwar Folgendes: „Wo die Menschenhand abgeht, dort gibt es auch keine Bodenkultur. Spuren davon wird man hier oder dort noch bemerkt haben. Im Allgemeinen dürfte das Gebiet keinen besseren Anblick geboten haben als die vielen anderen verwüsteten Gegenden des Landes.“1
Einer der Einwanderer war Georg Wiest. Er ist der Urahn aller in der Umgebung von Budapest lebenden Mitglieder der Wiest-Sippe Sie haben sich durch Binnenwanderung (Heirat, Arbeitssuche etc.) in den deutschen Dörfern des Ofener Berglandes angesiedelt. Die folgende Mitteilung dazu hat mir Frau Milbich-Müntzer zugesandt:
Unser Urahn Georg Wiest
Wiest (WÜST), Georg
Im März 1691 aus dem Hohenzollerschen Land entlassen (Morlock). „Wiest, Georg, Weilheim, Frau Kdr, 106 fl (Florentiner Gulden)33 x, (Kreuzer)) ‚außer Landes‘ (Gleichzeitig mehrere Entlassungen nach Ungarn). 24.3.1691“ (Hacker Auswanderungen aus Hohenzollern, 2158)
Als die Einwanderer nahe der Gemeinde Alt Ofen (Óbuda) ihre Zille verließen und erstmals ungarischen Boden betraten, wurden sie von Fuhrwerken ihrer künftigen Grundherren abgeholt und in ihre vorgesehenen Wohnorte gebracht. Von diesen waren kaum mehr als ihre alten Namen bekannt, gegebenenfalls waren noch ein paar Mauerreste vorhanden. Während der Türkenherrschaft (einhundertfünfzig Jahre) wurden sie entvölkert, verödeten und zerfielen. In den Heimatbüchern wird davon berichtet. Unsere Vorfahren wurden auf verwildertem Grund abgeladen. Die versprochenen Baumaterialien trafen nicht oder nur sehr zögerlich ein, Zugvieh und landwirtschaftliches Gerät ebenfalls. Die versteppten und versumpften Flächen mussten mühsam von Hand mit Hacke und Spaten wieder als Felder hergerichtet werden. Zugtiere und Pflüge waren noch nicht vorhanden. Unser Kopp-Opa wusste aus der familiären mündlichen Überlieferung von Perbál zu berichten, dass unsere Vorfahren im Sommer das Schilf in den versumpften Gebieten abmähten und verbrannten. Die heiße Sommersonne verdampfte das Wasser. Auf diese Weise wurden die Sümpfe entwässert. In den trockenen Gebieten rodeten sie, soweit vorhanden, Bäume und beseitigten dichtes Buschwerk. Das Holz der Bäume schlugen sie zu Balken und nutzten sie zum Bau einfacher „Häuser“ und Schuppen, um sich vor den Unbilden der Witterung (heiße Sommer, kalte, schneereiche Winter) und vor den wilden Tieren (Wölfe, Bären) zu schützen. An eine Ernte war unter diesen Umständen zunächst nicht zu denken. Selbst wenn sie von dem Grundherrn einige Lebensmittel (Getreide, Brot, Kartoffeln) erhielten, was nicht sicher war, litten sie, vor allem im Winter, an Hunger und Kälte. Viele erkrankten und starben – im Sommer am Sumpffieber, im Winter an Erkältungskrankheiten und Entkräftung. Die Kindersterblichkeit war unter diesen Bedingungen besonders hoch.
Georg Wieszt wurde also mit seiner Familie nach Werischwar gebracht. Er überlebte die schwere Zeit des Anfangs und findet sich in einer „Conscription“2 der Bevölkerung in Werischwar im Jahre 1696“ wieder: Georg Wüst mit zwei Söhnen und zwei Töchtern und – vermutlich ein erwachsener Sohn von ihm – ein Conrath Wüst mit zwei Söhnen. Wüst ist eine ursprüngliche Schreibweise von Wiest. Der Name stammt nach früheren Quellen aus dem Bodenseegebiet. Die ursprüngliche Bedeutung weist auf Tätigkeit der Menschen dieses Namens hin. Sie kultivierten unbebautes, wüstes Land. Damit waren sie in Ungarn sozusagen wieder an ihren Wurzeln angelangt.
Werischwar (Vörösvár)
Fogarasy-Fetter schreibt im „Werischwarer Heimatbuch“, dass im März 1691 vier Familien aus dem „Hohenzollerschen Land“ nach Werischwar kamen. „Mit ihnen kam aus Weilheim bei Hechingen Georg Wiest mit Frau und Kindern (namentlich bekannt Michael, Konrad, Franz), von dem die im Ofener Bergland weit verzweigte Familie Wiest ihren Ursprung nahm. Als seine Frau starb, heiratete er 1697 Barbara Wingert aus Finningen in Schwaben. Georg Wiest starb 1727 mit 60 Jahren in Werischwar.“ Nach Werischwarer Heiratsmatrikeln von 1697 war Georg Wiest von Beruf Wagner. Er gehörte damit einer Minderheit unter den Einwanderern an, die überwiegend Bauern und Winzer waren Der Name Wiest ist bis heute in Werischwar/Pilisvörösvar relativ häufig vertreten. Da viele Werischwarer nach dem Zweiten Weltkrieg im Bergbau arbeiteten, wurde der Ort von den Vertreibungen überwiegend verschont. Ähnliches