Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln. Hans Max Freiherr von Aufseß
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Lucy Schwob (Pseudonym Claude Cahun) und Suzanne Malherbe (Marcel Moore)
Hans Max von Aufseß zeigt sich in seinen Tagebüchern aber auch als äußerst sensitiver Naturbeobachter. Er hat ein Auge für die Schönheiten der Insel, der Felsformationen, der Strände und der Tiere. Diese Sensitivität verbindet er mit einem starken Körperempfinden, das er im Zusammenhang mit Ausritten auf seinem Pferd ›Satan‹ oder nach Badestunden im Wasser immer wieder thematisiert. Er hat aber auch ein sehr waches Auge für die Schönheit des anderen Geschlechts. So wie von Aufseß, ein nachweislich der Fotos dieser Zeit attraktiver Mann von Mitte dreißig, sich in seinen Tagebüchern präsentiert, muss man ihn wohl als ›Schürzenjäger‹ bezeichnen, der zahlreiche Liebschaften während der Besatzungszeit unterhalten hat. Diese Verhältnisse waren nicht nur geistiger Natur, sondern durchaus auch körperlich. Davon zeugen nicht nur die Tagebucheinträge des letzten Bandes, sondern auch weitere Dokumente aus dem Nachlass, unter anderem Liebesbriefe und Gedichte. Anfang Januar 1945 beginnt von Aufseß eine sehr intensive Affäre mit Elaine Fielding, die in den unveröffentlichten Tagebüchern, allerdings in der englischen Version von 1985 nur sehr dezent, inklusive ihrer sexuellen Komponenten offen angesprochen wird. Dieses Verhältnis ist sogar in einen fiktionalen Roman, der unter dem Titel ›The Occupation‹ im Jahr 2004 erschienen ist166, eingeflossen. Dort heißt Hans Max von Aufseß allerdings Max von Luck!
Politisch lässt sich Hans Max von Aufseß in den Tagebüchern nicht eindeutig fassen. An zahlreichen Stellen äußert er sich deutlich gegen den Nationalsozialismus, ohne mehr als ästhetische oder habituelle Gründe gegen die Borniertheit, mangelnde Einsichtsfähigkeit und Vulgarität seiner Vertreter anzuführen. Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung ist ihm ebenso gleichgültig wie jenes der Zwangsarbeiter, die in den Tagebüchern kaum Erwähnung finden.
Dem Adeligen von Aufseß ist in den Tagebüchern jedoch nicht nur der Nationalsozialismus zuwider. Demokratie, Liberalismus und ›Bolschewismus‹ werden nicht minder stark abgelehnt. Die Zerstörung der Heimat durch den Krieg sieht von Aufseß mit Wut und Trauer. Dass er am Untergang des »Deutschen Reichs« seinen eigenen Anteil als Offizier einer aggressiven Angriffsarmee trägt, thematisiert der Freiherr nicht. Schuld am deutschen Unglück haben bei ihm die ›Nazis‹, die immer nur die anderen sind. Diese Aussagen im Tagebuch korrelieren keineswegs mit jenen, die von Aufseß in Briefen oder Vorträgen trifft, und welche durchaus eine schon gezeigte Identifikation mit den deutschen Kriegszielen deutlich machen.
Beurteilt man die geistigen Interessen des Freiherrn im Spiegel seiner Buchlektüre und seiner dazu geäußerten Meinungen, zeigt sich eine Vorliebe für christlich geprägte, kulturkonservative Literatur. Von Aufseß macht den Eindruck, als seien wichtige Strömungen der intellektuellen Moderne an ihm vorübergegangen oder bewusst ausgeblendet worden. Auch seine umfangreiche Lektüre untermauert den Eindruck, den seine Ablehnung des Kubismus schon gezeigt hat: Hans Max von Aufseß lebt geistig eher im 18. und 19. als im 20. Jahrhundert. Seine kulturelle Bildung stellt er im Tagebuch immer wieder ein wenig gewollt aus. Allerdings gelingen ihm dabei nicht immer sichere Bilder und Bemerkungen. Seine Assoziationen sind zuweilen sprunghaft und treffen oft trotz einer etwas gezwungenen Originalität daneben, so z. B., wenn er von einer Krankenschwester behauptet, ihr Mund sei »sensibel halb geöffnet, wie der eines klassizistischen Mädchenepitaphs«167 – hier ist die Grenze zur unfreiwilligen Komik überschritten.
Wenn von Aufseß nicht über die Insel reitet, Vögel oder schöne Frauen beobachtet, liest, sich mit Kameraden oder Inselbewohnern von Stand zu Gesprächen, mit Inselbewohnerinnen zu Flirts und mehr trifft, muss er auch noch gearbeitet haben. Das Tagebuch vermittelt kein konkretes Bild über diese Arbeit und vor allem über die Kompetenzen des Schreibers. Das meiste, was von Aufseß dem Tagebuch über seine Arbeit als Leiter der Zivilverwaltung auf den Inseln anvertraut, zielt in eine eindeutige Richtung: Hans Max von Aufseß moderiert im Sinne eines menschlichen und erträglichen Besatzungsregimes. An manchen Stellen vermittelt das Tagebuch den Eindruck, nur dem Freiherrn und seinem maßvollen Temperament sei es zu verdanken, dass auf den Inseln eine NS-Terrorherrschaft vermieden werden konnte. Dass diese auf Alderney sehr wohl bestand, ist nicht Thema der Tagebücher. Großen Raum nehmen die Versorgungsfrage ab 1944 und die Kontakte zum Internationalen Roten Kreuz ein. Bei diesen Themen erscheint der Freiherr im Spiegel des Tagebuches als Mann von Courage und Durchsetzungskraft.
Nach der Festnahme seiner Frau stellt sich von Aufseß in den Tagebüchern als politisch Verfolgter dar, was sicherlich als Übertreibung bezeichnet werden muss. Tatsächliche Gegner des Nationalsozialismus wurden unabhängig von den äußeren Umständen liquidiert. Auch auf einer abgeschnittenen Kanalinsel wäre dies nicht weiter schwierig geworden. Dass Vizeadmiral Hüffmeier ihn nach Guernsey versetzt, mag Ausdruck von Zweifeln an der hundertprozentigen Zuverlässigkeit des Freiherrn und Unwillen über dessen kritische Haltung gewesen sein. Wie von Aufseß dies in den Tagebucheinträgen als eine Art lebensgefährdende Strafversetzung eines politischen Widerständlers darstellen möchte, wirkt jedoch stark übertrieben.
Liest man die Tagebücher nicht als authentische Quelle zur Geschichte der deutschen Okkupation der Kanalinseln, sondern als Psychogramm eines deutschen Offiziers von Adel in einer für den Zweiten Weltkrieg ungewöhnlichen Besatzungssituation, versteht man dabei die Einträge als Ausdruck von Literarisierung des Geschehens und Stilisierung der Person, kann die vorliegende Edition interessante und aufschlussreiche Einblicke verschaffen. Von Aufseß ist – trotz der von Mière geschilderten Szene – insgesamt alles andere als ein typischer fanatisiert-brutaler ›Klischee-Nazi‹. Er ist im Gegenteil mitfühlend, gebildet, verfügt meist über gute Umgangsformen und gesteht sich sogar eigene Schwächen ein. Trotzdem ist er in dem Sinne ein ›Nazi‹, als er unleugbar ein Besatzer ist, der sich im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskriegs auf den Kanalinseln befindet. Kein Deutscher, unabhängig von Nähe oder Distanz zum nationalsozialistischen Regime oder von seinen persönlichen Eigenschaften, hatte zwischen 1940 bis 1945 das Recht, Menschen zu deportieren, in Zwangsarbeit zu versklaven oder hinzurichten – auch Hans Max von Aufseß nicht, der ein Teil jenes Systems war, in dem diese Verbrechen begangen wurden. Ob er dabei persönliche Schuld auf sich geladen hat, ist zwar in Bezug auf ihn bedeutsam, nicht aber im Blick auf das große Ganze eines von Deutschland entfesselten Weltkriegs, der 40 Millionen Menschen das Leben kosten sollte.
Das Wissen um seine Entwicklung im Kriegsgefangenenlager und sein späteres Bemühen bei der Demokratisierung seiner Landsleute lassen den heutigen Leser bei aller Distanz vielleicht dennoch mit einer gewissen Milde auf die Tagebuchnotizen des Freiherrn Hans Max von und zu Aufseß schauen.
Zur Überlieferung und Edition der Tagebücher
Die Tagebücher sind in fünf handschriftlichen Bänden überliefert. Alle Bände befinden sich im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld. Diese Originaltagebücher werden in den Kommentaren der Edition als Version ›A‹ bezeichnet. Auffällig ist jedoch, dass die Bände 4 und 5 in Teilen einen identischen Zeitraum (März 1945–9. Mai 1945 bzw. April 1945–9. Mai 1945) abdecken, dabei aber keineswegs in allen Details inhaltlich übereinstimmen. Band 5 beginnt mit dem Satz: »Die letzten 3 Tagebücher haben unter Sturmzeichen begonnen und jedesmal habe ich dabei die vorhergehenden beiseite geschafft.«168 Das bedeutet, dass der vermeintliche Band 5 in Wirklichkeit ein Band 4 ist. Band 1 ist eine auffällige Kladde mit geriffeltem grünen Kunstledereinband und einem Kaufetikett aus München. Die Bände 2 bis 4 bestehen hingegen aus identisch gestalteten einfachen Heften mit verstärktem roten Papiereinband, die große Ähnlichkeit mit jenen Heften haben, in denen Hans Max von Aufseß in der Zeit der Kriegsgefangenschaft Vorlesungen mitgeschrieben bzw. eigene Vorträge handschriftlich entworfen hat. Band 5 besteht hingegen aus groben weißen, fadengebundenen Blättern. Es liegt der allerdings nicht endgültig beweisbare Verdacht nahe, dass lediglich Band 1 und Band 5 auf den Inseln geschrieben wurden, während die äußerlich homogenen Bände 2–4 in Kriegsgefangenschaft verfasst worden sind. Auffällig und die Unklarheit verstärkend ist der Umstand, dass sich die Schrift ab Band 3, S. 17, deutlich verändert. Die Bände 1 und 2 sind in