Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln. Hans Max Freiherr von Aufseß
10. Juni 1945 in das bekannte ›Camp 18 – Featherstone Park‹, das unweit des römerzeitlichen Hadrianswalls im nordenglischen Northumberland liegt.115 ›Camp 18‹ ist mit fast 5000 Inhaftierten, die große Mehrzahl davon Offiziere, eines der größten Kriegsgefangenenlager auf der britischen Insel. In diesem Lager werden überwiegend besonders überzeugte Nationalsozialisten gefangen gehalten. Eine Verfolgung wegen der von den Bailiffs geschilderten Kriegsverbrechen unterbleibt laut Bunting aber aus heute unbekannten Gründen: »No documents survive as to why the prosecutions were abandoned.«116
Von Aufseß schildert die Zeit der Kriegsgefangenschaft 1985 im Nachwort seiner englischen Tagebuchausgabe als behagliche Anekdote. Mit dem Bus fährt er täglich in das Örtchen Bardon Mill nahe der römischen Grenzfestung, kehrt in den Pub ›Fox and Hounds‹ ein, bevor er sich freiwillig seiner Arbeit in einem Landschaftsgarten widmet und dabei die Bekanntschaft eines singenden Postboten macht, die gänzlich ohne Worte auskommt. Der Freiherr hat das Talent, auch in schwierigen Momenten, das Sentiment zu entdecken und zu literarisieren: »But even this difficult period had in retrospect its humorous moments and compensating memories, such as my encounter with the local postman, a tough character. (…) At last my date of repatriation was announced and I caught the early bus to the village for the last time. My good hosts at the Fox and Hounds loaded me with gifts. There was also a packet of cigarettes left there for me by the postman! This time, I was resolved, I would certainly speak to him. But the postman was too clever for me. Why spoil a friendship with unnecessary talk? Instead he made a long and laborious detour. I saw him pass the distance but heard no song. What the words had been I shall never know, but perhaps after all the were meant to cheer me with some consolatory allusion to the hard lot of the soldier in a foreign land.«117
Das ›Featherstone Park‹-Lager ist bekannt für sein ambitioniertes demokratisches Umerziehungsprogramm, das bei Hans Max von Aufseß erfolgreich gewesen zu sein scheint.118 Im Lager gibt es eine eigene Form der ›Lageruniversität‹, in der die Insassen in akademischen Kursen mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie vertraut gemacht werden. Sogar Berufsabschlüsse können im Rahmen dieser ›Universität‹ erlangt werden.119 Zum Teil werden die Gefangenen von Briten unterrichtet, zum Teil unterrichten sie sich wechselseitig selbst, sobald ihre freiheitliche Gesinnung gesichert ist. Die Leitung des Lagers hat unter britischer Kontrolle der deutsche Generalleutnant Ferdinand Heim, der sich engagiert mit der Aufgabe der Demokratisierung der Gefangenen identifiziert. Hans Max von Aufseß nimmt an der ›Politischen Arbeitsgemeinschaft‹ im Lager teil und hält dort Vorträge und Vorlesungen. Vor seiner Entlassung aus Kriegsgefangenschaft ist der Freiherr sogar Leiter der Arbeitsgemeinschaft.120
Besonders zuverlässigen Gefangenen erlaubt die Lagerleitung Arbeiten außerhalb des Lagers, meist auf Bauernhöfen.121 Dass von Aufseß eine solche Arbeit in Bardon Mill erlaubt wird, zeigt, dass die Lagerleitung ihn als erfolgreich demokratisiert einschätzt. Am 10. Mai 1946 hält Hans Max von Aufseß vor der ›Politischen Arbeitsgemeinschaft‹ einen Vortrag über ›Die Überschätzung des Gebildeten‹, in dem er ein christlich grundiertes Programm von Schlichtheit und Herzensgüte zur Überwindung des vergifteten nationalsozialistischen Erbes entwirft: »Was unsere Lage schon hier und erst recht in der Heimat erfordert, ist nicht der sogenannte Gebildete. Wir werden ihn weniger gebrauchen denn je. Was wir brauchen ist die Schlichtheit und Echtheit guter Gedanken (…).«122 Am 1. August 1946 hält er einen Vortrag über ›Europa als Nation von Nationen‹ und bekennt sich dabei nun ganz anders als während der Besatzungszeit, als er noch eine deutsche Hegemonie in Europa wünschte, zur europäischen Idee: »Ich möchte von Mensch zu Mensch wirken und nur die Richtung eines Gedankens befördern, der von dem übertriebenen Nationalismus weg zu einem weiteren europäischen Denken führt. Wenn jeder in seinem Kreis weiter wirkt, auf seine Kameraden, auf seine Gemeinde, auf seine Partei, dass nichts gegen diesen guten Gedanken geschähe, so betreiben wir die [unleserlich] und fördern etwas, was mir die gesunde Entwicklung unserer deutschen Nation innerhalb der grösseren europäischen zu sein scheint.«123 Von Aufseß besucht im Lager Vorlesungen und hält dann sogar selbst Vorträge zum Thema ›Völkerrecht‹, in die er seine Erfahrungen als Jurist und Inselverwalter einfließen lässt.124
Die sehr engagiert um die politische Bildung ihrer Insassen bemühten Lagerleiter um Generalleutnant Heim ermöglichen den deutschen Gefangenen auch die Gestaltung einer Lagerzeitung, die den Titel ›Die Zeit am Tyne – Stimme Kriegsgefangener Deutscher‹ trägt.125 Hier erscheint in Ausgabe Nr. 5 vom 15. Oktober 1946 ein Beitrag des Freiherrn von Aufseß mit dem Titel ›Widersprueche unserer Zeit‹. Darin äußert er sich in einer Mischung aus grundsätzlich konservativ-christlichem Menschenbild und einem kommunitär verstandenem Sozialismus: »Allen Widersprüchen liegt wohl der Hauptwiderspruch zugrunde, dass die Menschheit im Genusse des technischen Fortschritts entscheidend gehindert ist durch das Zurückbleiben des menschlichen und völkerverbindenden Fortschrittes, also durch die Unfähigkeit der Lösung durch einen aufbauenden Weltsozialismus und eine überstaatliche Lösung. (…) Der Mensch muss (…) zurückfinden aus dem technisierten Massenmenschen in das, was er immer war. Wenn er sich in dem Neuen zurechtfinden will, muss er im echten und wahren Menschentum verbleiben.«126
Im Gefangenenlager erscheint 1946 ein ›Leitfaden Staatsbürgerkunde‹127, an dem von Aufseß nach eigener Aussage mitgearbeitet hat. Allerdings sind die Beiträge nicht namentlich gekennzeichnet, sodass der Anteil des Freiherrn nicht genau benannt werden kann. Im Vorwort stehen aber Auffassungen, die inhaltlich und stilistisch durchaus von ihm stammen könnten. Über die Absicht des Leitfadens ist dort zu lesen: »(…) das Vakuum auszufüllen, das in unserer Erziehung dadurch entstanden war, dass man den jungen Menschen wohl Trigonometrie und griechische Prosa lehrte, nicht aber die Gleichungen seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft.«128
In einem Visitationsbericht des Lagers vom 20. Dezember 1946 heißt es über den Freiherrn: »The leading spirit in political work is Aufsess.«129 Seine Wandlung und seine große prodemokratische Aktivität in englischer Kriegsgefangenschaft steht damit außer jedem Zweifel.
Hans Max von Aufseß wird am 14. Februar 1947 aus ›Camp 18 – Featherstone Park‹ entlassen und kommt so nach fast zwei Jahren wieder zurück in die Heimat.130 Zuvor bescheinigt ihm die Lagerleitung in Person noch einmal seine großen Leistungen bei der politischen Bildungsarbeit im Lager: »(…) he assisted very successfully by his willingness especially to help young and still hesitating Ps.o.W. [Prisoners of War] (…) His influence on denazification in this camp was very great.«131
Als von Aufseß im März 1947 auf der Rückreise in den Bunkern des zerstörten Bahnhofs von Hannover erschütternde Bilder der von Krieg, Flucht und Bomben verwirrten, traumatisierten Menschen sieht, bestärkt ihn das in seinen guten Absichten, am Aufbau eines besseren Deutschlands mitwirken zu wollen: »Es ist eine Trift von Vertriebenen und ein grosser Schmelztiegel erschütterter und durcheinandergeworfener Menschen. Aber gerade darin liegt auch etwas Hoffnungsfrohes in dieser Herausgerissenheit der Menschen (…) Als Künstler möchte man diesen selben Menschen einen ergreifenden, ja, einen erschütternden Film drehen, als Missionar (…) möchte man seinen Glauben frisch auspflanzen. Aber auch als politisch verantwortlich eingestellter Mensch möchte man glauben, dass aus diesem Schmelztiegel Deutschland endlich etwas besseres Neues geschmiedet werden kann, indem man die Hoffnungslosen wegführt aus dem Verfolgungswahn der letzten Jahrzehnte und sie bereit macht für das Denken in einer friedlichen europäischen Gemeinschaft.«132
Nach der Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft gelingt Hans Max Freiherr von Aufseß wie vielen ehemaligen Funktionsträgern des ›Dritten Reichs‹ die Integration in die junge bundesrepublikanische Gesellschaft. Er ist zunächst bis 1960 Anwalt am Oberlandesgericht Bamberg, verwaltet die heimatlichen Güter, engagiert sich im Gemeinderat von Oberaufseß und im Kreistag von Ebermannstadt, bevor er 1960 Generaldirektor der Herzoglich Coburg’schen Güter wird.133 Diese Stellung hat Hans Max von Aufseß bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1975 inne. Abschließend widmet er sich der Verwaltung der von Aufseß’schen Güter und der schon früher begonnenen Schriftstellerei. Er beschäftigt