Die Sanduhr in meinem Kopf. Michael Bohm
genau gesagt in Weimar.
Ein alter Freund hat mit einigen wenigen Zeilen, von seinem Smartphone gesendet, meine gedachte Zeit völlig durcheinandergebracht. Ich habe keine Zweifel daran, dass er mir eine Freude hat machen wollen mit seiner Mitteilung, er würde am Abend im Nationaltheater Maria Stuart sehen. Welche Seite er damit bei mir berührt, kann er sich vielleicht denken, aber nicht mit Gewissheit voraussetzen.
Tatsächlich sitze ich auf der Bank am See, während sich mein Geist in Weimar befindet, diesem magischen Ort für jeden Theaterbesessenen, also auch für mich, den man ebenso in Gedanken betreten und erleben kann.
Was sind das für Schritte, die ich auf den Steinen höre, die näher kommen? Sind es meine, auf dem Weg über die Esplanade hin zum Schillerhaus? Oder ist es Friedrich Schiller auf dem Spaziergang hinüber zu Freund Goethe? Ich weiß es nicht. Langsam verklingen die Schritte, weichen den Erinnerungen.
Wann habe ich zum letzten Mal Maria Stuart gesehen? Ist es fast zehn Jahre her, was kaum zu glauben ist? Meine Augen sehen auf das abgegriffene Reclam-Heft in meiner Hand. Noch ist die gelbe Farbe des Umschlags zu erkennen. Ich habe das gelbe Büchlein aus Dutzenden anderen in meinem Bücherregal gezogen. Der Inhalt trägt die Spuren der Schulzeit sowie meine Randbemerkungen aus den Tagen als Novize am Theater. Es sind Reminiszenzen, die hell sind, doch auch ein wenig von der süßen Traurigkeit haben, da sie nicht zurückzuholen sind.
Maria Stuart, Friedrich Schillers Trauerspiel, ist eine doppelte Landmarke auf meiner langen Tournee an den deutschsprachigen Theatern. Zum einen ist es das erste Stück, an dem ich beteiligt war, wenn auch noch so gut wie unsichtbar. Zum zweiten war das Drama Jahre später meine erste Regiearbeit.
Schon während der Schulzeit war ich ein Junge mit einem kaum zu bändigenden Drang zum Theater. Den fruchtbaren Boden dafür hatte der Großvater bereitet. Nein, mich zog es nicht auf die Bühne, meinen Platz träumte ich mir vor oder hinter die Bühne.
Die Theaterluft hatte mich unwiderstehlich am Kragen, als ich jedes Jahr in den großen Ferien das Mädchen für alles in unserem Stadttheater sein durfte. Das war noch zu den Zeiten, als die meisten Bühnen in den Sommermonaten nicht ihre Pforten schlossen.
Gleich nach dem Abitur verhalf mir Großvater zu der Volontärstelle bei den Städtischen Bühnen. Ich sehe mich noch über den weiten leeren Platz vor dem Theater schauen. Es war ein trüber Tag, als ich den Platz überquerte und mich beim Portier meldete. Bis heute ist es ein sonniger Moment in meiner Erinnerung, wie er mir den Weg wies, indem er nach vorne zeigte. Ich nahm das als gutes Omen.
Damit begann meine Zeit als Laufbursche, als derjenige, nach dem alle riefen, brauchten sie einen Dummen, der das machen sollte, was keiner tun wollte. Mir war das erst einmal egal, denn ich war dort, wo ich sein wollte. Hinter den Kulissen bekam ich alles mit, auch darum, weil ich für die anderen selbst Teil der Kulissen war.
Zu dieser Zeit liefen die ersten Vorbereitungen für die Proben einer neuen Inszenierung von Friedrich Schillers Maria Stuart. Natürlich bekam ich die Spannungen zwischen unseren Königinnen mit. Zunächst hielt ich diesen offenen Zwist für eine Auseinandersetzung um das Rollenverständnis. Doch schon bald war mir klar, die beiden Damen waren sich tatsächlich nicht grün. Auf wessen Seite meine Sympathie war? Keine Frage, ich war Marias Mortimer, ihr mit Leib und Seele verfallen, ohne dass sie es ahnte, denn sie hatte keinen Blick für mich. Friedrich Schiller hat die Figur des Mortimer geschaffen, um mit ihr die Ohnmacht der träumerischen Ideale zu zeigen. Auch wenn ich Maria mein Herz zu Füßen legen würde, wusste ich, es würde mir wie Mortimer ergehen. Mit dieser warmen Sehnsucht betrat ich jeden Tag das Theater und ich denke noch heute gern daran zurück, an dieses melancholische Gefühl.
Mein Reclam-Heft hatte ich ständig bei mir, um gleich nachzuschlagen, schnappte ich zufällig auf meinen Wegen durch das Haus einen kurzen Dialog von der Bühne auf, wo noch ohne Kostüme geprobt wurde.
Über die Entstehung der Maria Stuart hatte ich inzwischen einiges Wissen gesammelt. So wusste ich, dass sich Friedrich Schiller schon 1783 während seines Aufenthaltes in Bauerbach mit den historischen Hintergründen des Konflikts zwischen den Königinnen beschäftigt hatte. Ich hatte allerdings nicht herausgefunden, warum er von einem Tag zum nächsten seine Studien abbrach und den Don Carlos in Angriff nahm.
Ich glaube fest, obwohl es dafür keine Belege gibt, dass sich der Dichter in den Jahren bis er sich mit Lust und Freude, wie er Goethe wissen ließ, an das Opus der Maria machte, immer wieder mit dem Thema, den Hintergründen dieses Schauprozesses befasste. Ich kann mir lebhaft vorstellen, habe dafür auch Quellen gefunden, dass Schiller als Historiker die entsprechende Zeit der Geschichte Englands interessiert studiert hat. Belegt ist, dass er Schleiermachers Reden über die Religion las, die ihm für das seelische Erleben seiner Figuren wichtig sein durfte, ihn passende Gedanken für die inneren Konflikte finden ließ.
Im Hoftheater Weimar ist der letzte Teil der Wallenstein-
Trilogie Wallensteins Tod gerade uraufgeführt worden. Nach nur wenigen Wochen der Entspannung, wobei ich den hochgewachsenen Dichter auch auf langen Spaziergängen in den Wäldern sehe, sitzt er schon am 4. Juni 1799 an seinem Tisch und beginnt Maria Stuart zu schreiben. Wir wissen das genaue Datum, weil er Goethe in einer kurzen Mitteilung davon Kenntnis gibt. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Wallenstein fühlt er so viel Euphorie und Kraft, um sich umgehend an ein neues Werk zu machen.
Friedrich Schiller verarbeitet in seinem Trauerspiel das historisch belegte Drama zwischen der englischen und der schottischen Königin, zwischen Elisabeth I. und Maria Stuart.
Die Fakten sind die folgenden: Maria hat durch ihren Lebenswandel, die Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten, ihre schnelle Heirat des Mörders und einen verlorenen Krieg den Rückhalt in ihrem Volk verloren. Sie flieht nach England, wo sie sich die Unterstützung von Elisabeth erhofft, einer königlichen Schwester. Doch die illegitime Tochter Heinrichs VIII. weiß um ihren eigenen, zweifelhaften sowie den berechtigten Anspruch Marias auf den englischen Thron.
Elisabeth fackelt nicht lange und lässt die vermeintliche Rivalin ohne Grund auf Schloss Fotheringhay internieren. Erst viel später wird Maria vorgeworfen, an Intrigen und Vorbereitungen zu einem Attentat auf die königliche Gegnerin beteiligt gewesen zu sein. In einem Schauprozess wird Maria wegen Hochverrat angeklagt und zum Tode verurteilt. Nach fast zwanzig Jahren Gefangenschaft spricht ein Kreis hoher Adliger Maria schuldig, ohne dass sie auch nur den Hauch einer Chance erhalten hat, für sich zu sprechen oder sprechen zu lassen.
Der Dichter lässt sein Theaterstück drei Tage vor Marias Hinrichtung beginnen. Während Maria eine Schönheit ist, sind die Züge Elisabeths auf den Gemälden eher herb, wohl auch durch den übertriebenen Anspruch keine Gefühle zeigen zu dürfen. Nicht allein Marias Aussehen, auch ihr ganzes Wesen muss die Männer regelrecht betört haben. Mehrere, unter ihnen der junge Mortimer, wollen Maria aus ihrem erzwungenen Exil befreien.
Maria überredet ihren Bewacher Paulet, einen reinen Befehlsempfänger, dessen Neffe Mortimer ist, der Königin einen Brief zu überbringen. In diesem Schreiben bittet Maria um ein Treffen mit Elisabeth.
Mortimer erwägt indessen Möglichkeiten, die Angebetete aus der Gefangenschaft zu befreien. Um mehr Spielraum zu bekommen, auf Zeit spielend, nimmt er sogar einen nicht klar ausgesprochenen Auftrag der Königin an, Maria in ihrem Gefängnis umzubringen. Da er die innere Spannung kaum ertragen kann, spricht er mit dem Grafen von Leicester. Von ihm erhofft er sich Unterstützung, da er weiß, dass der Graf ein enger Vertrauter der Königin ist. Was er nicht ahnt, Leicester selbst ist in Maria verliebt.
Tatsächlich stimmt die Königin einem Treffen mit Maria zu, einer als Zufall getarnten Begegnung im Park vor dem Schloss nach einer Jagd. Maria hatte gedacht, sie könne Elisabeth mit ihrem Schicksal rühren. Doch sie muss erkennen, dass sie das kalte Herz ihrer Rivalin nicht erreichen kann. Sie hatte gehofft, dass beide sich als Ebenbürtige gegenübertreten könnten. Doch Elisabeth, ganz mit bewusster Attitüde die Königin bin ich, demütigt ihre Gefangene, nennt Maria eine Heuchlerin und Mörderin. Damit erwacht Marias Stolz, der zu Zorn wird, und sie wirft der Königin nicht nur Scheinheiligkeit vor, sondern auch ihre zweifelhafte Herkunft.
Unversöhnlich