Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner
Ihrem Verhängnis, wollte ich antworten. Ich hatte Glück, meine Vernunft war stärker.
„Im Jahr 1908“, sagte ich stattdessen.
„Ja, das Ereignis!“ Sie lächelte, wieder ganz bei sich selbst. „Was ist Ihre Lieblingserklärung?“
„Wie meinen Sie das?“ Nun passte der Satz.
Jelena strich mit der Spitze des Zeigefingers über ihre Nasenflügel, erst links, dann rechts, eine Geste, die ich noch nicht deuten konnte.
„Ganz einfach: Es geht um eine Naturkatastrophe, geschehen vor mehr als hundert Jahren, es gibt über hundert Thesen, und keine lässt sich beweisen. Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie einen Favoriten haben.“
„Na ja, wichtig ist doch, welche Hypothese die wahrscheinlichste –“
„Langweilen Sie mich nicht!“ Das kam scharf, unvermittelt. Eine Sentenz, in Marmor gemeißelt. Das Motto ihres Lebens. Der Spruch auf ihrem Grabstein, nach vielen elenden Jahren im –
„Ich warte.“
„Sie verachten die Wahrscheinlichkeit?“
„Nein. Sie macht mich nur müde.“
„Was weckt Sie auf?“
„Leidenschaft vielleicht. Obwohl das ein zu großes Wort ist. Besessenheit gefällt mir besser.“
„Damit kann ich, fürchte ich, nicht dienen. Es ist mehr ein Hob–“
Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund.
„Sie sehen nicht aus wie jemand, der Steckenpferde reitet.“
„Sie haben recht“, sagte ich. „Die wahrscheinlichste Lösung ist langweilig. Ein Meteorit oder Komet, der in fünf bis zehn Kilometern Höhe über der Taiga explodiert. Na ja.“
„Und ebenso unbeweisbar“, sagte sie feurig. „Mein Urgroßvater –“ Sie brach ab.
Ich richtete mich auf, jetzt war ich hellwach.
„Wollen Sie damit andeuten, Ihr Urgroßvater war ein … ein Augenzeuge?“
Jelena seufzte.
„Ich rede zu viel. Noch so eine gefährliche Eigenschaft. Aber ja, er hat es gesehen. Und gehört. Er war Rentierhirte, unweit von Wanawara.“
„Das ist ja unglaublich“, rief ich. „Was hat er erzählt?“
„Das, was die meisten Zeugen berichten: ein Feuerball, der über den Himmel zieht, ein Donnergrollen in der Luft, zersplitternde Fensterscheiben, plötzliche Hitze. So hab ich es von seinem Sohn gehört. Aber da war noch etwas.“
„Was?“
Sie schwieg kurz und genoss meine Ungeduld.
„Mein Urgroßvater hat gesagt, er habe ohne Zweifel einen Aufprall gehört. Etwas unerhört Großes und Schweres sei auf der Erde aufgeschlagen. Der Boden habe minutenlang gebebt. Und dann sei eine Rauchsäule in den Himmel gestiegen.“
„Also doch ein Impakt!“ Das war eindeutig zu laut für einen Steckenpferdreiter.
Die anderen Insassen und Besucher drehten mir ihre Köpfe zu, der Wachebeamte blickte von seinem Rätsel hoch.
Jelenas Handbewegung deutete an, dass es besser wäre, meine Stimme zu dämpfen.
Leise sagte ich: „Das klingt nicht nach einer Explosion in großer Höhe, oder?“
„Eher nicht.“ Da war ein ganz feines, kaum merkbares Lächeln auf ihren Lippen.
„Verraten Sie mir jetzt Ihre Lieblingstheorie?“
„Grundsätzlich schätze ich jene Thesen am meisten, die den Tatsachen am ehesten entsprechen. Aber wenn Sie die Wahrheit langweilt, muss ich wohl andere Prioritäten setzen –“
„Moment!“ Ihr erstes lautes Wort. „Sie werden doch nicht Wahrheit und Wahrscheinlichkeit verwechseln? Da hab ich Sie wohl überschätzt.“
Das traf mich. Ich ließ den Hörer sinken, nahm ihn in die andere Hand und hielt ihn mir ans andere Ohr, als würden mich dort freundlichere Sätze erreichen. Jelena beobachtete mich aufmerksam, ihre nächsten Worte formulierte sie sehr behutsam:
„Wahrscheinlichkeit ist der Feind der Wahrheit, finden Sie nicht? Wir werden uns andere Kategorien überlegen müssen.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte ich kühn:
„Wie wäre es mit Schönheit?“
Sie lachte hell auf, ihr Unmut war verflogen.
„Beauty is truth, truth beauty – meinen Sie das?“
„Shakespeare?“, riet ich.
Mit einem gespielt strengen Blick sah sie mich an, wie eine liebevolle Lehrerin.
„John Keats“, sagte sie nachsichtig. „Eine romantische Verszeile, doch die Wirklichkeit hält sich nicht daran. In der Wissenschaft ist schon so manche schöne Theorie von einer hässlichen Tatsache zu Fall gebracht worden.“
„Aber wie soll ich Ihnen meine liebste These nennen, wenn Sie alle Kriterien ablehnen?“
„Nicht alle! Bisher haben wir nur über zwei gesprochen.“
„Gut, dann machen Sie mir bitte einen Vorschlag.“
Jelena trommelte mit den Fingern einen Rhythmus auf den Hörer.
„Was halten Sie davon: Die lächerlichsten Lösungen sind oft die wahren?“
Ich musste lachen. „Lächerliche Vorschläge gibt es bei Tunguska mehr als genug.“
„Sehen Sie! Und über welchen haben Sie am lautesten gelacht?“
„Ein riesiger Komet ist auf die Erde zugerast. Glücklicherweise war ein außerirdisches Raumschiff mit besonders edlen Aliens in der Nähe. Um die Menschheit zu retten, steuerten sie ihr Schiff auf Kollisionskurs mit dem Eindringling. In einer gewaltigen Explosion wurden sowohl der Komet als auch das UFO zerstört. Eine fremde Macht hat sich für uns geopfert.“
Jelena legte den Telefonhörer ab und klatschte zweimal in die Hände. Dann nahm sie den Hörer wieder auf.
„Der gute Juri“, sagte Jelena. „Er hat so viel Fantasie.“
Erst nach ein paar Sekunden verstand ich.
„Sie kennen Juri Lawbin?“
„Natürlich. Er stammt aus Krasnojarsk, wie ich. Wir mailen hin und wieder. Ein äußerst liebenswerter Mann. Leider völlig verrückt.“
Der Beamte schaute auf die Uhr, legte sein Heft beiseite und erhob sich. Die Besuchszeit war vorüber.
„Vertrauen Sie Ihren Obsessionen“, sagte Jelena zum Abschied.
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