Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner

Schöne Ungeheuer - Wilfried Steiner


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gut. Sie haben mich überredet.“

      Eva umfasste mit beiden Händen meine Ellenbogen. Sie strahlte mich an. Es war gut für mein seelisches Gleichgewicht, dass ich in diesem Moment ganz sicher sein durfte, dass ihre Freude nicht mir als Person galt. Sie war ohne Zweifel eine hervorragende Rechtsanwältin.

      „Danke!“ Dieses Wort hatte ich lange nicht mehr gehört. Nicht in diesem Ton.

      „Und wie geht es nun weiter?“

      „Ich treffe Jelena Karpova morgen. Ich erzähle ihr, Sie seien ein bekannter Wissenschaftsjournalist. Was ja nicht einmal gelogen ist. Und dass Sie gar kein Interesse an ihrem Fall hätten. Vielmehr arbeiteten Sie an einem Buch über die Errungenschaften des CERN. Oder über die Entdeckung des Higgs-Teilchens. Da richte ich mich ganz nach Ihnen.“

      „Ich bin nur Journalist. Mit dem Fachwissen dieser Frau kann ich keine Sekunde lang mithalten.“

      Erst jetzt zog Eva ihre Hände zurück.

      „Sie machen das schon.“

      Sie winkte dem Kellner und zahlte. Für uns beide. Mein Protest wurde abgeschmettert.

      Ich blieb sitzen, als sie ging. Am Ende des Gastgartens drehte sie sich noch einmal um.

      „Ich habe übrigens auch ein Hobby“, rief sie. „Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal davon.“

      SIEBEN

      Herbert musste hervorragend geschlafen haben, sein Gesicht wirkte entspannt, beinahe fröhlich, als er frühmorgens bei mir hereinschneite.

      „Wie war’s?“, fragte er noch im Stehen.

      „Du hast ja blendende Laune“, antwortete ich. „Was ist passiert?“

      „Ich habe immer gute Laune. Ist dir das noch nie aufgefallen? Also, wie ist es gelaufen?“

      „Falls du das Treffen mit Frau Dr. Mattusch meinst: Es war mehr ein Test als ein Gespräch.“

      „Und, bist du durchgefallen?“

      „Nein.“

      Herbert klopfte mir auf die Schulter und setzte sich hin.

      „Ich wusste es!“

      „Ich hingegen wusste einiges nicht. Zum Beispiel, dass sie deine Scheidungsanwältin war.“

      Herberts Schultern bewegten sich nach vorne, die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht.

      „Das hat sie also ausgeplaudert.“

      Ich war auf Ärger vorbereitet gewesen, aber ich sah nur eine tiefe Traurigkeit.

      „Ich vermute“, sagte ich vorsichtig, „sie wollte nur verhindern, dass ich auf falsche Gedanken komme.“

      „Falsche Gedanken?“ Herberts Stimme klang wie von weit her.

      „Nicht so wichtig. Herbert, warum hast du mir nie von deiner Scheidung erzählt? Vielleicht hätte ich dir –“

      „Was hättest du“, unterbrach er mich. „Mir helfen, meinst du das? Für dich bin ich doch nur ein übler Karrierist, der dem Chef … den Speichel leckt.“

      Ein schwieriger Moment für die Wahrheit. Doch dreist lügen wollte ich auch nicht.

      „Das auch“, sagte ich. „Manchmal. Aber nicht immer.“

      „Wie großzügig von dir.“ Eine Stimme wie eine Tafel Bitterschokolade.

      „Herbert, es war nicht meine Absicht –“

      Auch diesen Satz konnte ich nicht zu Ende sprechen. Herbert zog seine Schultern wieder nach oben und schaute mich an.

      „Wir waren einmal Freunde, erinnerst du dich?“

      „Natürlich“, sagte ich so herzlich wie ich konnte. „Aber seitdem ist Vieles passiert. Du hast dich –“

      „… in einen Opportunisten verwandelt und bist zum Feind übergelaufen. Ist es in etwa das, was du mir vorwirfst?“

      Ziemlich exakt, war ich versucht zu sagen, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt.

      „Nein, Herbert, so würde ich das nicht nennen. Es ist nur …“

      Ich stockte.

      Herbert erhob sich langsam, jede Bewegung schien ihn zu schmerzen.

      „Könnte es nicht sein“, sagte er leise, „dass du dich einfach von mir abgewandt hast, weil ich deinen hohen moralischen Standards nicht mehr genügt habe? Dass deine unerschütterliche Selbstgefälligkeit ein Urteil über mich gesprochen hat? Verbannung aus meinem edlen Freundeskreis, so lautete die Strafe, nicht wahr?“

      „Herbert, bitte –“ Ich stand auf, legte meine Hände auf seine Oberarme, versuchte ihn zurückzuhalten, doch er entzog sich meiner Berührung, drehte sich um und verließ mein Büro.

      Wieder allein, noch aufgewühlt von der Auseinandersetzung mit Herbert, setzte ich mich an meinen Computer und recherchierte über die neuesten Errungenschaften am CERN, um mir bei der Unterhaltung mit Jelena keine allzu offensichtlichen Blößen zu geben. Weit kam ich nicht: Bei einem Foto blieb ich hängen. Es zeigte das Cover des Buches Inside CERN, eines Fotobands von Andri Pol.

      Ein enges, auf den ersten Blick funktional eingerichtetes Büro. Die meisten Gegenstände sind weiß oder beige: Regale, Tische, Röhren, der Heizkörper. Nur die heruntergelassenen Jalousien leuchten in einem im Verhältnis zur Umgebung fast schon schreienden Hellblau. Drei prall gefüllte Regale: Unmengen Papier, darunter ein futuristischer Drucker. Was die weiteren Objekte betrifft, kann der Laie nur ahnen, worum es sich handelt. Ein silbernes Kästchen in zwei Teilen, dahinter ein Gerät, in dem etwas wie ein Griff mit angeschlossenem Kabel steckt. Arbeitet man hier mit Lötkolben? Auf dem zweiten Regal klebt ein Post-It, leider unlesbar. Geheimnisvolle Glasquadrate, an der Seite eine Reihe Steckdosen. Im dritten das nicht mehr definierbare Chaos, eine aufgerissene Schachtel mit herausgerutschten länglichen Quadern – Mini-Teilchenbeschleuniger oder doch verpackte Nespresso-Kapseln? Noch ein offener Karton, aus dem Kabel kriechen, ineinander verschlungen, ein Hochzeitstanz von weißen und schwarzen Nattern.

      Das Zentrum des Bildes jedoch, oder besser: seine rechte Hälfte, zeigt einen Mann. Mit kurzen Hosen und einem Polo-Shirt, das Tausende Waschgänge überstanden haben muss. Aus dem Saum der Shorts ragen dünne, verschrumpelte Knie, abgeschnitten von der unteren Bildkante. Der Schädel des Mannes ist kahl, doch hinter seinen Ohren, einmal um den Kopf herum, verläuft ein buschiger Kranz aus weißem Haar. Und er trägt einen imposanten Vollbart, zerrupft und eisfarben wie die Gesichtshaare des Yeti auf den gefälschten Fotografien.

      Soweit zum äußeren Erscheinungsbild.

      Doch was mich ergriff, war eine Bewegung, die Andri Pol eingefangen hatte (einer dieser Momente, von denen alle Fotografen träumen). Eine Geste des Mannes, beide Arme weg vom Körper gerichtet, die Handflächen nach oben gewandt, die Daumen abgespreizt. Die wohlbekannte Haltung, die in etwa ausdrückt:

      Was soll das?

      Kann mir jemand das erklären?

      What the fuck – ?

      Oder, in deutschen Krimiserien sehr beliebt: Was zum Teufel …?

      Der Blick des Mannes, winzige Brillen mit Drahtgestell durchdringend, richtet sich auf einen Gegenstand, der als einer der wenigen auf diesem Tableau klar zu erkennen ist.

      Eine Espressomaschine.

      Der Mann ist Richard Kellogg, einer der wichtigsten Physiker am CMS-Projekt, das an der Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligt war.

      Der hochdekorierte Wissenschaftler, der vor den Tücken seiner Kaffeemaschine kapituliert. Selten hat für mich ein Bild auf so verschmitzte Weise ein Phänomen zum Ausdruck gebracht, das mich mein Leben lang beschäftigt: Der Charme des Scheiterns großer Geister an kleinen Dingen. Da ich selbst


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