Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner

Schöne Ungeheuer - Wilfried Steiner


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du es nicht selbst?“

      „Erstens, weil ich keine Ahnung von Naturwissenschaft habe. Und zweitens, weil der Chef es so will.“

      „Dann soll er mir das selbst sagen.“

      „Er hat momentan viel um die Ohren.“

      „Soso. Und du? Bist du jetzt nur mehr sein Erfüllungsgehilfe? Sein Befehlsweiterleiter?“

      „Georg, ich muss dich bitten, deinen Ton –“

      „Weit habt ihr es gebracht“, unterbrach ich ihn, „du und deine Karriere.“

      „Wenigstens hocke ich nicht den ganzen Tag im Büro herum und hoffe, dass nichts geschieht.“

      Ich versuchte, so finster wie möglich zu blicken, und schwieg.

      „Georg“, begann Herbert in sanftem Ton, „das hat doch keinen Sinn. Lass uns wie erwachsene Menschen –“

      „Ja, natürlich. Natürlich. Also, was hofft ihr denn herauszufinden? Über Schuld oder Unschuld entscheidet das Gericht.“

      „Aber wir können ihm helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“

      „Das ist doch nicht unsere Aufgabe.“

      Herbert setzte seinen Drehstuhl in Bewegung, wie immer, wenn er kurz davor war, die Contenance zu verlieren.

      „Leicht machst du es einem nicht, das musst du zugeben.“

      „Kann sein.“

      Er stoppte die Drehbewegung und schaute mich an.

      „Sie wurde von den Beamten des Landeskriminalamts vernommen, dann vom Haftrichter. Sie hat den Mord gestanden –“

      „Wunderbar! Dann ist ja alles geklärt! Was ist daran mysteriös?“

      „Danach hat sie geschwiegen. Kein Wort über ihr Motiv. Niemand kann sich erklären, warum eine unbescholtene, erfolgreiche Wissenschaftlerin einen Kollegen umbringen sollte.“

      „Einen Kollegen?“

      „Das Opfer hat viele Jahre ebenfalls am CERN gearbeitet. Vor etwas mehr als einem Jahr hat Jan Koller gekündigt und auf eigene Faust weitergeforscht. Er war also nicht einmal mehr ein Rivale für Frau Karpova.“

      „Du meinst, sie lügt?“

      Herbert zuckte die Achseln. „Möglich. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Geschichte, das spüre ich.“

      Das verhieß nichts Gutes. Wenn Herbert etwas spürte, war er nicht aufzuhalten. Sein Vertrauen in seinen eigenen Instinkt war unerschütterlich.

      Ich bemühte mich, Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.

      „Gibt es irgendwelche anderen Indizien?“

      „Jemand hat sie in der fraglichen Nacht aus Jan Kollers Hotelzimmer kommen sehen.“

      „Na bitte. Dann haben wir sogar einen Zeugen.“

      „Doch es gibt auch Widersprüche. Erhebliche sogar.“

      „Die da wären?“

      „Die Karpova hat beim Verhör angegeben, sie hätte die Waffe von hinten ins Herz des Opfers gerammt.“

      „Wie nett. Und weiter?“

      „Die Klinge steckte in Jan Kollers Hals, der Stich wurde ohne Zweifel von vorne geführt und traf präzise die Schlagader.“

      „Vielleicht stand sie unter Schock und kann sich nicht mehr genau erinnern.“

      „Das ist eine etwas windschiefe These, findest du nicht?“

      „Kann sein“, gab ich zu. „Welche Waffe wurde eigentlich verwendet?“

      „Ein Brieföffner.“

      „Ein Brieföffner?“ Ich musste lauthals lachen. „Bei einem Verbrechen unter Physikern hätte ich etwas Originelleres erwartet. Eine Kapsel mit Antimaterie zum Beispiel.“

      Kleine Lachfalten erschienen auf Herberts Gesicht.

      „Du liest zu viel Dan Brown, mein Lieber.“

      „Ich lese keine Bestseller“, zischte ich. „Und außerdem sind die Mengenangaben für die Antimaterie in Illuminati völlig falsch.“

      Jetzt grinste mein Gegenüber. „Du weißt erstaunliche Details über ein Buch, das du nicht gelesen hast.“

      Er hatte mich erwischt. „Alles Allgemeinbildung“, entgegnete ich. „Schon eine viel geringere Masse an Antimaterie könnte bei einem Einschlag auf der Erde –“

      Ich stockte.

      Herbert beugte sich nach vorn und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte.

      „Kann es sein“, begann er langsam, „dass der Nebel von Tunguska mittlerweile auch deine Intelligenz umhüllt?“

      Etwas Unverschämtes lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte es hinunter.

      „Gut“, sagte ich, „also ein Brieföffner. Was gibt es sonst noch Geheimnisvolles?“

      „Der Zeitpunkt der Tat. Die Karpova hat beim Verhör angegeben, sich nicht mehr genau zu erinnern. Zwischen 21 und 22 Uhr, sagt sie. Laut Forensik ist der Tod aber erst um 23 Uhr 30 eingetreten.“

      „Kann man das so genau feststellen?“, fragte ich.

      „Die Gerichtsmedizinerin sagt, der Stich war so exakt, dass Koller sofort tot war. 23 Uhr 30, plus minus eine halbe Stunde.“

      „Eine sehr vergessliche Mörderin.“

      „Das kann man wohl sagen. Sie behauptet, in der Aufregung –“

      „Also doch ein Schock“, unterbrach ich Herbert. „Wann hat die Zeugin Frau Karpova gesehen?“

      „Sie kann sich nicht mehr genau erinnern. Zwischen 21 Uhr und 23 Uhr 30, schätzt sie, sie habe nicht darauf geachtet. Ein bisschen groß, dieses Zeitfenster, finde ich. Und es gibt noch ein Detail.“

      „Jetzt bin ich aber gespannt.“

      „Keine Fingerabdrücke auf dem Griff.“

      „Im Ernst?“ Ich musste lachen und mimte den Verblüfften. „Im Fernsehen tragen die Täter meistens Handschuhe.“

      Herbert drehte sich auf seinem Sessel einmal um die eigene Achse. Dann stand er auf, hob die Mappe vom Tisch und hielt sie mir hin.

      „Das genügt für heute“, sagte er. „Wir reden weiter, wenn du damit durch bist.“

      Ich steckte das Dossier in meine Umhängetasche und verließ ohne ein weiteres Wort Herberts Büro.

      VIER

      Zu Hause legte ich mich aufs Sofa, knipste die Leselampe an und vertiefte mich in das Dossier Jelena Karpova.

      Ihre Eltern und ihr Großvater hatten das ostsibirische Krasnojarsk 1984 verlassen und waren mit ihrer damals zweijährigen Tochter Jelena nach Wien gezogen. Ihr Vater, Nikolai Karpov, war in der Sowjetunion ein angesehener Physiker gewesen und erhielt nach dem Umzug überraschend schnell einen Lehrstuhl an der Universität Wien. Immer wieder war er als Gastprofessor nach Genf eingeladen worden. Ab 2007 bekleidete er einen hohen Posten am CERN. Er starb vorige Woche an einem Herzinfarkt, im Alter von sechsundsechzig Jahren. Ekaterina, die Mutter, geboren 1960, war bildende Künstlerin und hatte bereits mehrere Ausstellungen in Wiener Galerien vorzuweisen. Die Feuilletons (auch unseres, übrigens) priesen sie als Erneuerin der abstrakten Malerei. Eine perfekt geglückte Integration auf der ganzen Linie. Nur wenige Misstöne. Nikolai war nachgesagt worden, er hätte gute Kontakte zum KGB, doch das waren Gerüchte. Es gab auch Anzeichen, dass er immer wieder in Konflikte mit den staatlichen Autoritäten geraten war. Einen Hinweis darauf, warum er ausgerechnet 1984, als Konstantin Tschernenko an der Macht war, mit seiner Familie das Land verlassen hatte,


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