Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner

Schöne Ungeheuer - Wilfried Steiner


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sah sie fünfzehn Jahre jünger aus als ich, obwohl der Altersunterschied nur fünf Jahre betrug. Einzig bei der Partnerwahl hatte sie danebengegriffen.

      Was genau der Grund war, warum sie mich letztlich verließ, darüber kann ich nur spekulieren. Ich hätte es in unserem sogenannten letzten Gespräch gerne herausgefunden, doch für Helga war alles so klar gewesen, dass sie es für unnötig gehalten hatte, ihre Motive im Detail vor mir auszubreiten.

      „Aber du weißt es doch, Georg“, hatte sie gesagt.

      Nachdem sie ausgezogen war, wartete ich auf den großen emotionalen Einbruch. Doch er kam nicht. Zwar vermisste ich sie in manchen Momenten; der tiefe Abgrund jedoch, in den ich zu stürzen fürchtete, tat sich nicht auf. Vielleicht ein weiterer Beweis für meine mangelnde Gefühlstiefe.

      Möglicherweise hing es damit zusammen, dass meine innere Grundhaltung, für den Rest der Welt – aber besonders für Helga – eine Zumutung zu sein, sich allmählich auflöste. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Ich saß abends auf dem Balkon, eine Zigarette in der Hand, ein Glas Wein vor mir auf dem Campingtisch, und empfand mich immer noch als Zumutung. Aber nur für mich selbst.

      Manfred hätte das sicher als eine besonders perfide Form des Narzissmus interpretiert. Doch er war weg. Nie wieder musste ich ein Steak vor ihn hinstellen, mit dem gequälten Lächeln des Gastgebers wider Willen.

      Nur Helgas Parfum in den Polstern hielt sich lange, gegen alle Naturgesetze.

      Eine Art zerbrechliche Selbstgenügsamkeit stellte sich ein. Sollten die Tage doch hingehen, wie sie wollten.

      Die große Veränderung stellte sich erst ein, als Herbert mich mit verschwörerischer Miene in sein Büro bat. Das war unüblich. Ging es etwa um so lebenswichtige Angelegenheiten wie einen Relaunch des Layouts?

      Weit gefehlt.

      Alles fing an.

      ZWEI

      Die ersten Forschungen am Schauplatz begannen erst neunzehn Jahre später.

      In einer alten sibirischen Zeitung, die ihm 1921 zufällig in die Hände fiel, entdeckte der Meteorologe und Meteoritenforscher Leonid Alexejewitsch Kulik einen Bericht, der seine Neugier entfachte: Er las über eine rätselhafte Himmelserscheinung. Im Jahr 1908 sei in der Nähe der Ortschaft Kansk in Ostsibirien ein riesiger Brocken auf die Erde gestürzt. Es gebe zahlreiche Zeugen. Sogar Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn, deren Trasse Hunderte Kilometer vom Einschlagsort entfernt verlief, hätten ein Zittern der Schienen und ein Schlingern der Waggons wahrgenommen. Einige sprachen von einem rotglühenden Objekt, das aus dem Boden der Taiga ragte. Professor Kulik wusste sofort, was geschehen war.

      Im Herbst 1921 brach er auf, die Zeitung im Gepäck. Mit der Transsibirischen Eisenbahn reiste er durch den Ural und über Krasnojarsk 4800 Kilometer weit bis nach Kansk. Was er fieberhaft suchte, waren ein Einschlagkrater und Spuren des Meteoriten in der Erde. Er sprach mit zahllosen Einheimischen, notierte jeden noch so geringen Hinweis, verteilte Fragebögen und untersuchte den Boden Quadratmeter für Quadratmeter.

      Doch da war nichts. Hatte er sich geirrt? Davon wollte er nichts wissen.

      Er stöberte in Archiven und fand weitere Zeitungsberichte. Daraus schloss er, dass er sich am falschen Platz befand. Sechshundert Kilometer zu weit südlich. Der Himmelskörper musste woanders eingeschlagen sein, in der Nähe des Flusses Steinige Tunguska.

      Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt sprühte er vor Enthusiasmus. Nichts auf der Welt würde ihn davon abhalten, eine Expedition zu diesem Ort auszurichten.

      Außer den Behörden.

      Obwohl er einen angesehenen Posten am Mineralogischen Museum in Petrograd bekleidete und wegen seiner revolutionären Aktivitäten gegen den Zar über einen guten Ruf im Sowjetstaat verfügte, schlug seinem Vorhaben Misstrauen entgegen. Die Akademie der Wissenschaften reagierte zurückhaltend. Was sollte das sein, ein Meteoriteneinschlag in der Taiga, von dem man in Moskau oder Petrograd noch nie etwas gehört hatte? Außerdem misstrauten die Professoren den rückständigen Naturvölkern in der Region, ihren seltsamen Schamanen, die mit Hilfe von Fliegenpilzen durch die Zeit reisten und ihre Ahnen besuchten, ihren Naturreligionen, die sie auch in der atheistischen UdSSR weiter pflegten. Mit amanita muscaria im Blut ist es nicht so abwegig, Feuerbälle durch die Luft fliegen und rotglühende Trümmer in der Erde stecken zu sehen.

      Doch Leonid Kulik war kein Mann, der leicht aufgab. Als leidenschaftlicher Lyriker wusste er, dass man seinen Inspirationen trauen musste. Seine Besessenheit ebnete ihm schließlich den Weg. Einige einflussreiche Wissenschaftler, angesteckt von seiner Begeisterung, setzten sich für ihn ein, und die Akademie bewilligte das Projekt doch noch.

      Im März 1927 startet die Expedition. Es ist die Zeit der Schneestürme, nur mühsam kommen die Pferdeschlitten voran. Erst Wochen später erreichen sie ihre erste Station: das Handelsdorf Wanawara. Hier sollen die Druckwellen Häuser abgedeckt, Fenster und Türen eingedrückt haben. Entfernung vom geschätzten Epizentrum: fünfundsechzig Kilometer. Wieder beginnt er mit seinen Befragungen. Die Menschen erweisen sich als wenig hilfsbereit, fast als hätten sie Angst, dass sie das Unglück erneut heraufbeschwören könnten, wenn sie darüber sprächen. Sie erzählen vom Feuergott Agdy oder Ogdy, der vom Himmel herabsteigt, wenn man ihn verärgert.

      Doch immerhin erfährt Kulik, dass der Hauptort der Verwüstung weiter nördlich liegt. Rentierhirten vom Volk der Tungusen hätten die Explosion aus nächster Nähe beobachten können. Kulik und sein Tross ziehen weiter nach Norden. Auch die Tungusen sind misstrauisch und halten sich bedeckt. Mit viel Verhandlungsgeschick schafft es Kulik, einen alten Hirten als Vertrauten und Führer zu gewinnen. Der erzählt ihm, was er erlebt hat:

      „Ich stand“, sagt er, „in einer grell erleuchteten heißen Nacht.“ Später habe er die blauweiß leuchtenden Fäden am Himmel gesehen, wie Leuchtspurraketen, nur viel, viel heller. Es sei wie ein langsamer Sternregen, ein Sternschnuppenregen bei Tag gewesen. In einem Moment sei es ihm erschienen, als husche ein ungeheures Licht über die Sonne, das sie für einen Augenblick überblendete. Am Ende seien Blitze aufgeflammt, gefolgt von hellem Donnern, das ihm beinahe das Trommelfell zerrissen hätte.

      Gemeinsam erreichen sie den Flusslauf der Steinigen Tunguska, zäh geht es voran, stromabwärts. Mit jedem Tag wird Leonid Kulik unruhiger. Sie müssen dem Zentrum der Katastrophe nun ziemlich nahe sein. Doch weit und breit ist nicht die winzigste Spur eines Kraters zu sehen. Im April entdeckt er in einem Seitental an die tausend umgeknickte Bäume, ihre Spitzen zeigen alle in dieselbe Richtung. Kein Zweifel, die Druckwelle des Meteoriten hatte sie niedergemäht. Mit ihren Packpferden kämpfen sie sich nordwärts. Mittlerweile ist es so kalt, dass Vögel im Flug erfrieren und vom Himmel fallen. Kulik findet eine Stelle, an der Hunderte Lärchen und Birken entwurzelt worden sind. Diesmal zeigen ihre Stämme in alle Richtungen. Doch auch hier gibt es keinen Krater.

      Nach mehreren Wochen, gezeichnet von Schwäche und Krankheiten, stoßen die Forscher auf ein besonders stark zerstörtes Gebiet. Langsam bekommt Kulik eine Ahnung, welches Ausmaß das Ereignis neunzehn Jahre zuvor gehabt haben muss. Und er entdeckt etwas, das ihn verblüfft: Mitten im Kreis der Verwüstung stehen einige Bäume aufrecht. Ihre Äste und Blätter sind verschwunden, das Feuer hat ihre Rinde geschwärzt. Wie geteerte Telegrafenmasten ragen sie zum Himmel. Näher vermag man der Stätte des Einschlags nicht zu kommen.

      Wie kann es sein, dass selbst hier keine Spuren eines Impaktors zu sehen waren?

      Trotzdem ist Kulik davon überzeugt, dem Beweis für seine Meteoritentheorie ganz nahe zu sein. Doch er muss das Unternehmen vorerst beenden, die Vorräte werden knapp.

      Im Herbst 1927 treffen Kulik und seine Mitreisenden in Leningrad ein. Er kommt mit leeren Händen und befürchtet ein Ende des Geldflusses der Akademie. Zu seiner großen Überraschung lösen seine Berichte aber nicht nur in Russland, sondern auch in London und New York ein gewaltiges Medieninteresse aus. Von Forschungsstationen der ganzen Welt treffen Messdaten und Aufzeichnungen von seismischen Wellen aus dem Jahr 1908 ein, die bisher niemand zuordnen konnte. Kulik hält Vorträge und fesselt sein Publikum mit


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