Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa

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Hochs und Tiefs gehen, fehlt ohne einen Zugang zu diesen Erfahrungen etwas Wesentliches. Es mangelt an Augenhöhe.

      Die über viele Jahre gesammelte Erfahrung lehrt übrigens, dass dies von den Beteiligten meist gar nicht als Defizit wahrgenommen wird. Eine regelmäßige gründlichere Auseinandersetzung mit sich selbst, das stellt sich bei ausführlicheren Gesprächen heraus, vermissen nur wenige Sportler. Oder sie gehen gleich so weit und verlangen ein Mitspracherecht bei der detaillierten Gestaltung der Berichterstattung.11 Sie versuchen, Journalisten zu Mitwirkenden in ihrem PR- und Propagandatheater zu machen.

      Und die Medienmenschen? Viele empfinden Distanz als professionell, Annäherung als schwierig oder sogar kontraproduktiv. Auf eine Ich-Geschichte und die damit verbundene sich selbst zugemessene Rolle des Protagonisten verspüren sie kaum Appetit. Anders als ein Schriftsteller wie Norman Mailer in seinem Buch The Fight12 über den Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman im Oktober 1974 in Kinshasa (dem Rumble in the Jungle). Er nutzte den persönlichen Blickwinkel, um das Ereignis über den rein sportlichen Gehalt hinaus in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Als Stilmittel geht er darin so weit, dass er auch über sich selbst spricht, wenn auch in der dritten Person Singular, was gespreizt klingt. Zitat: „Nun, unser weiser Mann besaß ein Laster. Er schrieb über sich selbst. Er beschrieb nicht nur die Ereignisse, die er sah, sondern auch seinen eigenen, kleinen Einfluss auf die Ereignisse.“

      Eine solche Vereinahmung des Mythenrservoirs des Boxens, des Kampfs gegen sich selbst mit der Aussicht auf Erfolg und sozialen Aufstieg, die eine Zuneigung zum männlichen Authentizitätskult intellektuell überhöht13, illustriert, wie viele unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten es gibt, „die Sozialfigur des Sporthelden in postheroischen Zeiten zu durchleuchten und die im Spitzensport vorfindbare Heroisierungspraxis auf ihre soziale Konstruiertheit hin zu befragen“, wie das der Sportwissenschaftler Professor Dr. Karl-Heinrich Bette in seinem Buch Sporthelden – Spitzensport in postheroischen Zeiten formuliert hat.14

      Es ist eine Aufgabe, die ich mir selbst auch immer wieder stelle und die zu einem Leitmotiv für dieses Buch geworden ist, in dem es nicht nur ums Durchleuchten und Befragen geht. Sondern auch darum, sich das Vorgefundene einzuverleiben, wie das der wegen seiner Interviews bewunderte Fernsehmann und Dokumentarist Georg Stefan Troller häufiger genannt hat15. Und der dies unter anderem 1974 in seinem Halbstünder vor dem zweiten von drei Kämpfen zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali (Personenbeschreibung: Muhammad Ali – Der lange Weg zurück) auch mit einem Thema aus dem Sport eindrucksvoll demonstriert hat.

      Wo das nicht geschieht, so hat der Journalist Bertram Job, Autor einer sehr empfehlenswerten Box-Anthologie16, mal vor einiger Zeit in einem Artikel in der taz geklagt, entsteht eine nicht zu übersehende Lücke: „Es ist immer das gleiche mit den Sportschreibern in diesem Land. Die affirmativ sind, kleben unkritisch an den Helden; die kritisch sind, wollen sich keine Affirmation leisten. Und an der Schnittstelle zwischen beiden liegt – Brachland.“17

      Dieses Brachland ließe sich durchaus urbar machen und auf diese Weise gegen den allgemeinen Trend zum Clickbait-, Klatsch- und Kontroverse-Spektakel antreten.18 Denn fraglos bietet selbst der aalglatte, durchgetaktete, kommerzielle Sport von heute mannigfachen und ausgesprochen guten Stoff. Mehr als jene innere Spannung, die einen erfasst, wenn man eine olympische Rodelbahn hinabschlittert, in Kitzbühel auf eigenen Skiern die Hahnenkamm-Abfahrt attackiert, auf einem Polopferd – die eine Hand am Zügel, die andere mit dem Schläger bewaffnet – im Galopp dem kleinen Ball hinterherjagt oder ein paar Minuten vor dem Start eines Automobilrennens in Indianapolis zwischen den dröhnenden Boliden steht und in Richtung erste Kurve schaut. Mehr als die gängigen Denkschablonen und Plattitüden, die sich in der Sprache der Medienarbeiter festgesetzt haben. Mehr als die nervig klappernde Mühle mit ihren Transfergerüchten über irgendwelche Fußballer. Mehr als den Versuch, ein „Schlangennest aus sich bekämpfenden Interessen und Egos“ von Trainern, Agenten, Clubs und Sponsoren abzubilden, was nicht nur der britische Journalist Oliver Franklin-Wallis missbilligt19. Und mehr als die eine oder andere Geschichte, die erzählt, was hinter den Kulissen, beim Training, in den Vertragsverhandlungen, beim Doping-Doktor oder in einem Gerichtssaal passiert, in dem ein ungeimpfter Tennisspieler seine Einreise in ein fremdes Land einzuklagen versucht.

      Um dieses Mehr geht es in diesem Buch, das sich dabei überwiegend an Vorbilder aus der amerikanischen Sportpublizistik orientiert, die über die erwähnten Autoren hinaus bemerkenswerte Maßstäbe gesetzt hat. Etwa mit der Sachbuch-Serie The Best American Sports Writing20, einer breitgefächerten und gleichzeitig aufschlussreichen Archäologie des Sports. Angelehnt an etwas, das Paul Gallico in Farewell to Sport bereits skizziert hatte: „Heldenverehrung ist menschlich. Vorausgesetzt der Held ist ebenfalls menschlich.“

      Ein hilfreiches Zitat, um an dieser Stelle näher auf den Begriff einzugehen, der sowohl in Gallicos Muttersprache als auch im Deutschen ähnlich stark schillert. Klassischerweise werden nicht nur außergewöhnlich mutige Menschen mit dieser Vokabel belegt. Sie wird auch auf die Hauptgestalten von Romanen angewendet und auf ein ganzes Rollenfach beim Theater (wo es noch andere klischeehafte Figuren gibt wie den jugendlichen Liebhaber oder die Salondame). Die Ausdehnung des Begriffs auf den kommerziellen Sport ist also nachvollziehbar. Denn er liefert dem Geschehen mit seinen heldenhaften, theatralischen Taten im Zentrum einen zusätzlichen Fixpunkt und schwebt als sinnstiftende Vokabel über der Inszenierung von Sport und der Idol-Kultur, die sie fördert.

      Oft genug allerdings steht die Vita von prominenten Athleten dem Bedürfnis nach versimpelnder Idolisierung und Heroisierung entgegen. Der damalige Spiegel-Redakteur Nils Minkmar etwa nahm nach dem Unfalltod des Basketballers Kobe Bryant eine Tendenz ins Visier, mit einer aufgeschminkten, selektiven Würdigung die unangenehmen Details seiner Biographie zu vertuschen. Bryant hatte einst wegen Vergewaltigung vor Gericht gestanden und war trotz starker Indizien nur deshalb freigesprochen worden, weil die betreffende Frau vor einer Aussage in einem öffentlichen Prozess zurückgeschreckt war und so das Verfahren zum Platzen gebracht hatte. Und der das Schweigen dieser Frau mit einem hohen Betrag entlohnt hatte.21

      Was Minkmar zu der Anmerkung veranlasste: Es möge „besonders schwer auszuhalten“ sein, dass „Helden eine Schwäche haben, dunkle Charakterzüge, seltsame Ansichten oder gar schuldig wurden“. Man könne allerdings deshalb nicht einfach dafür plädieren, dass „auf den glatten Bildschirmen der digitalen Moderne“ immer „alles makellos erscheinen“ soll. Auf diese Weise „verrennt sich die Moral in den Bereich der Ästhetik: Die Schönen sollen gut sein und vice versa.“22

      Was Gesellschaftswissenschaftler nicht überrascht. So hat der Freiburger Soziologe Prof. Dr. Ulrich Bröckling 2020 im Deutschlandfunk in einem Interview auf Folgendes hingewiesen23: „Der Sport verbindet etwas, was auch für Heldenfiguren ganz grundsätzlich ist: dieses Moment des Kämpferischen, des Sich-auszeichnen-Wollens, der außerordentlichen Leistung. Das alles bietet der Sport. Er bietet spannende Inszenierungen von Kämpfen, von Wettkämpfen. Und gleichzeitig ist es etwas, was politisch nicht so brisant oder moralisch so verwerflich ist wie militärisches Heldentum.“

      Und das funktioniert so, wie Karl-Heinrich Bette in Sporthelden: Spitzensport in postheroischen Zeiten schreibt: „Der Spitzensport ist ein Sozialbereich, der real existierende Figuren der Außeralltäglichkeit“ in einer unterhaltsamen und sozial harmlosen Weise und im Kontrast zu anderen Teilen des Lebens hervorbringt. Dort, in diesen anderen Teilen des Lebens, habe die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren „eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse und seinen Stellvertretungsofferten mit Erfolg hineinstoßen konnte.“24

      Die Wechselwirkung kommt folgendermaßen zustande: Einerseits existiert, so Bette, eine weltweit gestiegene Nachfrage „nach spannenden, heroischen, affektiv aufgeladenen, gemeinschaftsstiftenden, personen- und körperorientierten Sportleistungen durch ein interessiertes Massenpublikum“. Andererseits gebe es „Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels“. Zu denen gehören seiner Auffassung nach unter anderem solche Entwicklungen wie Körperdistanzierung,


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