Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa

Der Stoff, aus dem die Helden sind - Jürgen Kalwa


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Spielkultur die Wechselbeziehung von Mitspielern und Gegnern beim Kampf um Spielfläche und Dribbel-Wege modifiziert hat. Was früher ein Mannschaftsspiel war, in das sich der einzelne einordnet, ist heute ein Varieté von One-Man-Shows, ruppigen Rivalitäten, bei dem das Bedürfnis nach dem Übertrumpfen, nach sogenannter One-upmanship stärker ist als das Gefühl für Kameradschaft.

      Obwohl der Bedarf an Stars angesichts der unübersehbaren Medienlandschaft mit ihren Live-Übertragungen, der angeflanschten Bierreklame und den wachsenden Erwartungen der Zuschauer groß ist, produziert die Heldenfabrik keine Fließbandfabrikate. Wer allzu früh hochgelobt wird und zu viel verdient, dem droht, frühzeitig zu scheitern. Schon besser, einer fängt ganz unten an. Erst dann entsteht der Stoff, aus dem der Glamour ist.

      Als Michael Jordan 1984 nach dem Studium und nach dem Gewinn der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen Profi wurde und zu den Chicago Bulls kam, waren sie eine der schlechtesten Mannschaften in der NBA. Er fand schnell heraus, was das heißt: „In den ersten paar Minuten des ersten Spiels wurde ich umgehauen und landete auf dem Boden.“ Es dauerte dreieinhalb Jahre, in denen er ackerte und artistischer und unberechenbarer wurde, bis die Bulls zum ersten Mal die Playoffs der besten 16 NBA-Mannschaften erreichten. In jener Saison spürte man, dass Jordan vielleicht eines Tages seine Sportart dominieren könnte. Er war bester Defensivspieler, erfolgreichster Korbschütze, Slam-Dunk-Champion und wurde als Most Valuable Player ausgezeichnet.

      In den Jahren danach zeigte er, dass man als Sportler noch weiter gehen kann, als Titel und Meisterschaftsringe zu sammeln und Millionen von Dollar aufeinanderzuschichten. Kein anderer Athlet hat die Grenzen zwischen Privatheit und öffentlicher Person derartig subtil aufgelöst und aus der eigenen Person ein Mediengesamtkunstwerk à la Joseph Beuys oder Andy Warhol geschaffen. Nicht mal Muhammad Ali, der nach seinem Übertritt zum Islam den Wehrdienst verweigerte und dafür vom Boxverband gesperrt wurde. Das jüngste Resultat für diesen gesellschaftlichen Prozess: Der im Frühjahr 2021 veröffentlichte zehnteilige Dokumentarfilm, Titel The Last Dance, den der Fernsehsender ESPN produzierte und der den Kunstgriff benutzt, auf Jordans allerletzte Saison in Chicago 1997–98 zurückzublenden, während er gleichzeitig das Panorama der Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale des Basketballers und seinen Einfluss auf seine Mitspieler beleuchtet. Die Wirkung ließ sich an den Einschaltquoten ablesen: Die zehn Episoden erreichten im Schnitt live mehr als fünf Millionen Zuschauer und fast 13 Millionen pro Folge, die sie sich die Doku nachträglich on demand anschauten.

      Der dramaturgische Faden des Films hat etwas. Besonders wenn man weiß, dass der Erfolg der Mannschaft damals mehr war als ein lockerer, glorreicher Spaziergang. Die Widrigkeiten und Eitelkeiten, die sich im Laufe der Jahre in der Umkleidekabine der Bulls aufgestaut hatten, waren nicht unerheblich und Teil der Geschichte. Regisseur Jason Hehir konnte dafür auf bis dahin nie gezeigte Aufnahmen aus dem Archiv zurückgreifen. Rund 500 Stunden an Rohmaterial, das eine Crew im Auftrag der NBA im Laufe jener Saison gedreht hatte, das aber nie das Licht der Welt erblickt hätte, wenn Jordan, dem die Liga Veto-Recht eingeräumt hatte, seine Zustimmung verweigert hätte.

      Auf diese Weise erfährt die interessierte Welt nicht nur zum wiederholten Mal, was für ein genialer, sportlich überragender und extrem ehrgeiziger Typ dieser Michael Jordan war. Sondern sie erhält zusätzlich Einblick in das Sammelsurium aus neurotischen Charakteren, ohne die es die Nummer 23 nie zum ganz großen Erfolg gebracht hätte.

      Die meisten von ihnen haben sich mit ihrer Rolle als Nebendarsteller abgefunden. Selbst der damalige Bulls-Center Luc Longley, der wenig später in seine Heimat Australien zurückkehrte und aus der Rückblende fast völlig herausradiert wurde. Angeblich wurde er für das Projekt nicht interviewt, weil die Kosten für eine Reise des Drehteams zu hoch waren und die COVID-Pandemie alles verkomplizierte. Longley war deshalb bereit, sich erstmals vom australischen Fernsehen ausführlich porträtieren zu lassen. Die Produzentin Caitlin Shea von der Australian Broadcasting Corporation (ABC) sagte dem amerikanischen Sender Fox Sports: „Er wollte, dass junge Australier erfahren, dass auch ein Aussie in dieser Mannschaft war.“37

      Scottie Pippen ging noch weiter und beschwerte sich hinlänglich in seiner 2021 erschienenen Autobiographie über The Last Dance: Nicht nur war Pippen sauer, dass darin der damalige Kampf des gesamten Teams um den sechsten NBA-Titel zu einer Glorifizierung von Jordan umgedeutet wurde. Was ihn noch mehr genervt hatte, war dessen Einfluss im Hintergrund als Produzent mit Vetorecht über das eingesetzte Bildmaterial. „Michael erhielt 10 Millionen Dollar für seine Rolle in der Doku“, schrieb er. „Meine Mannschaftskollegen und ich erhielten keinen Cent.“38

      Abgesehen davon, dass Jordan seine Erfolge auf dem Platz nicht alleine geschafft hat: Was seine Ausstrahlung außerhalb der Arenen betrifft, geht viel auf das Konto einer der kreativsten Werbeagenturen der Welt, Wieden & Kennedy in Portland im Bundesstaat Oregon. Dort entwirft man seit Jahrzehnten jene Nike-Werbespots, mit denen aus profanen Sportlern wahre Aktionskünstler werden. In dem eindrücklichsten Jordan-Clip steht er allein in einer leeren, halbdunklen Turnhalle und spielt den einsamen, nachdenklichen Helden, der so gern von dem Sockel herabsteigen möchte, auf den ihn die amerikanische Öffentlichkeit gestellt hat. „Was wäre, wenn mein Name nicht in Neonbuchstaben geschrieben würde?“, fragt er mit dieser tiefen Stimme aus dem Off, während er einen Ball nach dem anderen in den Korb wirft. „Was, wenn mein Gesicht nicht in jeder zweiten Minute im Fernsehen gezeigt würde?“

      Die Kamera hängt weit oben unter der Decke und fängt ihn in ästhetisierenden Schwarzweißkontrasten ein.

      „Was, wenn nicht hinter jeder Ecke ein Menschenauflauf entstünde?“

      Das Tippen des Balles. Das Geräusch des Netzes.

      „Was, wenn ich einfach nur ein Basketballspieler wäre? Kannst du dir das vorstellen?“

      Es herrscht sekundenlang Stille. Und jeder darf rätseln, was er dem berühmtesten und reichsten Sportler der Welt auf eine solche Frage antworten würde. Aber bevor wir ihm etwas Gescheites zurufen können, nimmt er uns das Nachdenken ab.

      „Ich kann.“

      (2021)

      Skulpturen von Sportlern wachsen seit den neunziger-Jahren allerorts aus dem Boden. Omri Amrany, der Maler und Bildhauer, der das Jordan-Denkmal, genannt The Spirit gestaltet hat, bekam seither ständig ähnliche Aufträge und entwarf Statuen von Basketballern wie Magic Johnson, Wilt Chamberlain und Jerry West, von Eishockeyspielern wie Gordie Howe und Bobby Hull und den bei einem Militäreinsatz von seinen eigenen Kameraden getöteten, ehemaligen Football-Profi Pat Tillman.

      Den Auftrag von 1993 bekam er auf Initiative von Bulls-Eigentümer Jerry Reinsdorf, nachdem der für das Projekt Entwürfe von mehreren Künstlern eingeholt hatte. Die fertige Statue wurde am 1. November 1994 in einer Feierstunde enthüllt.

      Im Umgang mit den Skulpturen ist man in Nordamerika durchaus flexibel. Als das NHL-Team der Edmonton Oilers innerhalb der Stadt in eine neue Halle umzog, musste der in Bronze gegossene Wayne Gretzky, der in dieser Darstellung den Stanley Cup in die Luft stemmt, natürlich mit und wurde umgepflanzt. Die Universität Penn State wiederum ließ kurzerhand die Statue des Football-Trainers Joe Paterno entfernen. Die hatte sie nur wenige Jahre zuvor als Würdigung für seine erfolgreiche Arbeit errichtet. Bauarbeiter rückten kurzerhand an und warfen eine blaue Plastikplane über den grinsenden, alten Mann mit der dicken Brille, der ein paar Jahre lang mit erhobenem Zeigefinger vor dem Stadion gestanden hatte. Ein Ruck mit einem Kran – und die 400 Kilogramm schwere Bronze in Lebensgröße war entwurzelt, abtransportiert und verschwunden. Zusammen mit der Inschrift „Joseph Vincent Paterno. Erzieher, Coach, Humanist“.

      Der Grund: Während Paternos jahrzehntelangem Regime hatte einer seiner ehemaligen Assistenztrainer in den Umkleidekabinen des Football-Zentrums der Universität immer wieder Jungen sexuell missbrauchen können, unter anderem deshalb, weil Paterno es vermieden hatte, die Polizei einzuschalten.

      Es gibt aber auch den Fall, der nur auf einer abgehobenen Ebene etwas mit dem organisierten Sport zu tun hat. Es ist das überlebensgroße Denkmal des fiktiven Boxers Rocky Balboa, gespielt vom Schauspieler


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