Vermessene Zeit. Ingrid Strobl
Ingrid Strobl
VERMESSENE ZEIT
Der Wecker, der Knast und ich
Im Anhang dieses Buches
finden sich Dokumente zur
Erklärung der historischen
Hintergründe, wie den
Revolutionären Zellen, der
Roten Zora usw.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2019
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2020
Umschlaggestaltung
Maja Bechert, Hamburg
© Porträt der Autorin:
Malin Kundi
ePub ISBN 978-3-96054-229-2
Für Peter Neff, Martina Domke und Beate Haensel
Inhalt
Teil 1: Justizvollzugsanstalt München Neudeck (21. Dezember 1987 – 11. Januar 1989)
Teil 2: Justizvollzugsanstalt Essen 11. Januar 1989 – 19. Mai 1990
1
Der Autokonvoi fährt langsam in den Hof ein. Der Hubschrauber kreist über dem Gefängnisgebäude. Großer Auftritt für die »Terroristin«. Ich wappne mich für das, was jetzt kommt: im Knast, der Justizvollzugsanstalt München Neudeck. Hinter mir liegen die Verhaftung in meiner Wohnung, die Nacht auf dem Polizeipräsidium in Köln, der Hubschrauberflug nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof, die halsbrecherische Autofahrt im Konvoi nach München. Ich fühle mich schmutzig, meine Klamotten riechen, zumindest bilde ich mir das ein, die Haare kleben mir fettig am Kopf.
Drei Justizvollzugsbeamtinnen nehmen mich in Empfang. Das bisschen, das ich bei der Festnahme mitnehmen durfte, muss ich ihnen nun aushändigen. Sie führen mich in das Gebäude, durch mehrere Flure, schließen einen Raum auf, die Kleiderkammer, bedeuten mir, einzutreten, schließen hinter uns wieder ab. Größe? Sie legen einen Lodenmantel, einen Wollrock, einen Pulli, Strumpfhose, Unterwäsche, Nachthemd, Wollsocken und ein paar klobige Schuhe auf einen Stapel.
»Ziehns Ihnen bitte aus.« Sie durchsuchen mich. Körperkontrolle. Nicht grob. Routiniert. Und dann fragt eine: »Wollns duschen?« Sie lassen mich lange unter der Dusche stehen, obwohl es schon Abend ist. Ich beginne, mich wieder ein wenig wie ein Mensch zu fühlen. Ziehe die Knastklamotten an, komme mir vor wie verkleidet, ausgestattet für einen Heimatfilm aus den Fünfzigerjahren. Eine Beamtin wickelt eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta, einen Kamm, eine Mütze, ein Handtuch, einen Waschlappen, einen Becher, einen Teller, Löffel, Gabel und Messer in das Nachthemd und drückt mir das Bündel in die Hand: »Jetzt gehn ma in Ihren Haftraum.« »Ich brauche Zigaretten«, sage ich. Vor gut einem Jahr habe ich aufgehört zu rauchen. Aber ohne Nikotin stehe ich das hier nicht durch.
Auf dem Weg darf ich mir an einem Automaten eine Packung Tabak und Blättchen ziehen. Im Kellertrakt sperren sie eine Eisentüre in der Mitte des Flurs auf und lassen mich eintreten. Zeigen mir den Rufknopf. »Meldens Ihnen, wenn Sie was brauchen.« Tür zu, Schlüsselklirren, Schritte, Stille.
»Hallo? Hallo! Ist hier jemand? Hallo?« Langsam begreife ich, dass alle anderen Zellen leer sind, dass ich in diesem Keller alleine bin. Dass ich gerade am eigenen Leib erfahre, wovon ich bislang nur gehört und wogegen ich demonstriert habe: Isolationshaft. Ich stehe auf, will das Fenster öffnen, Luft holen. Aber da ist kein Fenster. Nur ganz oben unter der hohen Decke ein schmaler angestaubter Streifen Glas. Ich werde hier ersticken, denke ich. Irgendwann ist die Luft in diesem Raum aufgebraucht, und ich werde ersticken. Ich renne von einem Ende der Zelle zum anderen, überlege, ob ich auf den Knopf drücken soll, um ihnen zu sagen, dass ich hier nicht bleiben kann, unmöglich, geht nicht, ich komme hier um! Setze mich auf das Bett, zünde mir eine Zigarette an, versuche einzuschätzen, wie viel Sauerstoff die mir jetzt wegnimmt, rauche sie zu Ende, sage mir, so ist das jetzt, reiß dich zusammen. Geht schon. Muss irgendwie gehen. Du darfst sie nicht wissen lassen, dass du Angst hast.
Dann plötzlich Schritte. Ich springe auf. Alarm. Wer kommt? Warum?
Die Tür wird aufgeschlossen. Eine der Beamtinnen steht im Türrahmen: »Der Herr vom BKA lässt Ihnen bestellen, wenn Sie doch was sagen wollen, dann müssens das jetzt tun. Danach ist es zu spät.«
»Sagens ihm, ich hab ihm nichts zu sagen.«
Sie nickt. Offenbar hat sie diese Antwort erwartet.
Wie soll ich die Zeit hier herumbringen? Ich habe nichts zu lesen, was soll ich denn tun, den ganzen Tag? Ich muss fragen, ob die eine Knastbücherei haben. Und ob man mir Bücher schicken kann. Aber was mache ich bis dahin? Ich stehe auf, laufe herum, bekomme keine Luft mehr, presse mir die Hände auf die Brust, Panik, ich ersticke! Setze mich wieder hin, lehne mich an die Wand, versuche, in den Bauch zu atmen, ruhig bleiben, es wird schon!
Ich steige auf den Tisch und versuche, durch die Glasscheibe an der Decke etwas zu erkennen. Keine Chance. Ich setze mich auf die Bank. Starre die Tür an: Steht da jemand davor, auf der anderen Seite? Schaut da jemand durch das Guckloch? Werde ich beobachtet? Denke: Ich müsste jetzt bei den Eltern auf dem Sofa sitzen. Bei ihnen sein. Schicke ihnen stumme Nachrichten: Ich hab euch so lieb, es tut mir so leid, dass ihr das jetzt durchmachen müsst … Stelle mir vor, wie sie im Wohnzimmer sitzen, nachdem sie im Fernsehen die Nachrichten gesehen haben. Oder nachdem die Polizei bei ihnen war. Meine Mutter weint vielleicht. Mein Vater flucht stumm vor sich hin. Verflucht die Polizei, die seine Tochter ins Gefängnis sperrt, obwohl sie unschuldig ist. Natürlich ist sie unschuldig! Meine Mutter zerfrisst sich in Grübeleien. Hat sie das getan, was sie sagen? Ist sie eine Terroristin? Sie hat ja immer so radikal dahergeredet. Aber das war doch nur reden. Oder?
Nicht weinen! Ich darf hier nicht weinen. Eine politische Gefangene weint nicht. Sie würden es als ein Zeichen von Schwäche registrieren. Sie können