Vermessene Zeit. Ingrid Strobl
die Zelle. Das Bett an der Wand. Daneben ein kleines Waschbecken. Auf der anderen Seite ein Tisch, eine Bank, ein schmaler Schrank, alles, wie das Bett, im Boden fixiert. Zwei Schritte weiter eine Kloschüssel. Wenn ich sie benutze, kann mich auch dabei jeder, der vor der Tür steht, beobachten. Hör auf mit den Gedanken! So ist es jetzt eben. Ich hänge den Lodenmantel in den Schrank. Ziehe die klobigen Schuhe aus. Stehe auf, gehe zum Waschbecken, wasche mir die Hände. Das Wasser ist kalt. Warmes Wasser gibt es nicht. Zweimal die Woche, haben sie mir gesagt, kann ich duschen.
Wieder Schlüsselklirren. Die Essensklappe in der Tür wird einen Spaltbreit geöffnet. »Hallo Frau Strobl, mir haben leider nix mehr zu essen. Aber ich könnt Ihnen einen Tee machen. Wollns an Tee?«
»Ja gern!« Es rutscht mir heraus, bevor ich es mir verbieten kann.
»Was wollns denn für einen? Einen Pfefferminztee?«
Noch mal: »Ja, gern!«
Die Klappe wird geschlossen. Mein Hirn fängt an zu rotieren. Warum tut sie das? Ist das ein Trick? Ein Test? Kann die einfach nur freundlich sein? Ich entscheide mich für letzteres. Gefühl gegen Doktrin. Für politische Gefangene gehören »Wachteln«, »Schlusen«, »Schließerinnen« zur Armee des Feindes. Für mich sind sie gerade die ersten freundlichen Menschen seit meiner Verhaftung.
Ich hatte das Wochenende mit Freunden verbracht. In der Tagesschau war die Meldung gekommen: »Mehrere Frauen als mutmaßliche Mitglieder der Roten Zora festgenommen.« Man hatte in ihren Wohnungen Wecker der Marke Emes Sonochron gefunden – wie sie von der »terroristischen Vereinigung Revolutionäre Zellen« als Zeitzünder bei Anschlägen verwendet wurden. Und allein, dass sie diese Sorte Wecker besessen hatten, war offenbar der Grund für die anschließende Verhaftung der Frauen gewesen.
So einen Wecker hatte ich auch gekauft. Ich hatte zu der Zeit große Sympathien für die Revolutionären Zellen. Es war mir sogar gelungen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Wir hatten diskutiert und waren nicht immer einer Meinung gewesen. Und dann fragten sie mich, ob ich diesen speziellen Wecker für sie kaufen würde. Sie brauchten ihn für einen Anschlag auf das Lufthansagebäude in Köln. Das würde zu dem Zeitpunkt leerstehen, es würden keine Menschen verletzt. Ich habe Ja gesagt. Und habe mich gefreut, dass sie mir vertrauten.
Doch dann hatte ich begonnen, für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung zu recherchieren. Hatte mich diesem Thema, den Menschen, die ich dafür interviewte, völlig verschrieben. Alles andere interessierte mich nur noch marginal, wenn überhaupt.
Und nun überlegte ich, leicht panisch, ob die Polizei womöglich auch bei mir gewesen war und meine Wohnung auf den Kopf gestellt hatte. Der Paragraf 129a, auch »Anti-Terror-Paragraf« oder »Lex RAF« genannt, hätte ihr das ermöglicht. Denn genau dafür war er im August 1976 eingeführt worden: Um »im Kampf gegen den Terrorismus« der Justiz eine Sonder-Rechtsprechung und der Polizei Befugnisse zu geben, die sie sonst nicht hatte.
Als ich schließlich, zurück in Köln, in meine Straße einbog, war es dort ungewohnt still. Sonst war um diese Zeit mehr Verkehr. Ich ignorierte das schlechte Gefühl, das mich befiel, die Angst, die sich in meinem Magen festsetzte.
Das Licht im Hausflur ging nicht an. Als ich versuchte, im Dunkeln den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnungstür zu stecken, flog sie auf, ein Pulk schwarz gekleideter, vermummter und bewaffneter Männer drängte mich gegen die Wand. Einer hielt mir seine Waffe an die Schläfe. Wenn jetzt unten die Haustür zufällt, dachte ich, und der erschrickt, bin ich tot. In der Wohnung fesselten sie mich an meinen Schreibtischstuhl. »Wo ist meine Katze?«, fragte ich. Gab keine Ruhe, bis einer sie suchen ging. Sie lag im Schlafzimmer auf dem Bett. Fauchte. »Ich will meine Anwältin«, sagte ich.
Im Polizeipräsidium versuchte ein Beamter, mich zu verhören. Edith Lunnebach, meine Anwältin, die schließlich kam, erklärte er, warum ich festgenommen wurde und fügte noch etwas von einem Mord hinzu. Wir überlegten, ob die mir tatsächlich einen Mord anhängen wollten. Oder was sie sonst damit bezweckten. Edith abschrecken? Mich in Panik versetzen? Klar war nur, dass sie mich nach Paragraf 129a festgenommen hatten.
Irgendwann brachten sie mich in eine der Zellen auf dem Präsidium. Ich bekam nichts zu essen und durfte mich nicht waschen, geschweige denn duschen. Am nächsten Morgen flogen sie mich nach Karlsruhe, zum Bundesgerichtshof. Als sie mich dort dem Untersuchungsrichter vorführten, dachte ich: Der sieht jetzt ein wildes Tier vor sich. Eine ungepflegte Terroristin. Fragte mich, ob das Absicht war.
2
Ein Schlüssel rasselt, die Tür geht auf, eine Beamtin, die ich noch nicht kenne, kommt herein. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie legt eine kleine Tüte auf den Tisch und einen Tannenzweig. »Das ist vom Herrn Pfarrer. Wegen Weihnachten. Und er lässt fragen, ob Sie mit ihm reden möchten.«
»Nein, danke.«
»Ich sag’s ihm. So, ich hab Ihnen Formulare mitgebracht, wenn Sie etwas beantragen wollen. Und den Katalog von unserer Bücherei. Suchen Sie sich was aus, drei Bücher maximal, dann schau ich, dass Sie die vielleicht noch bis Heiligabend kriegen.«
»Ich brauche Schreibpapier und Briefumschläge und Briefmarken.«
Sie nickt. »Das könnens beantragen. Briefmarken dürfens keine kriegen.«
»Warum nicht?«
»Ja, das geht halt nicht bei Ihnen.«
Ich fülle die Antragsformulare für Papier, Briefumschläge und einen Kugelschreiber aus. Blättere hektisch in dem Katalog: Bastelbücher, Nähanleitungen, Kochbücher, das, was man Frauenromane nennt, uralte Krimis, Bände, in denen es um Technik, Autos und Sport geht. Verzweiflung steigt in mir hoch, die haben nichts für mich, ich habe nichts zu lesen, das überlebe ich nicht …
»Lassens Ihnen Zeit, ich komm später noch einmal vorbei.«
Nein, will ich schreien, bleiben Sie hier, bitte! Ich finde schon etwas, sonst klappt es nicht bis Heiligabend. Aber ich reiße mich zusammen. Sage: »Danke.« Bloß keine Gefühle zeigen, keine Angst, keine Schwäche!
Als sie zurückkommt, habe ich drei Bände gefunden. Sie schreibt sich die Autoren und Titel auf. Geht und kommt eine halbe Stunde später wieder. »Ziehns Ihnen an, Frau Strobl, wir fahrn nach Stadelheim.« »Warum?«, frage ich sie, bemühe mich, meine Verzweiflung nicht zu zeigen, ich will nicht in das Männergefängnis, ich will hier bleiben!
»Anwaltsbesuch«, sagt sie. »Mir ham hier bei uns keine Trennscheibenzelle.«
Vor der Türe steht ihre Kollegin. Wenn ich meine Zelle verlasse, müssen mich immer zwei Beamtinnen begleiten. Ich bin ja eine mutmaßliche Terroristin. Also hochgefährlich. Eine von ihnen muss auch mit nach Stadelheim fahren. Die Polizisten geben ihr eine schusssichere Weste. Sie zieht sie widerwillig an, murmelt grantig: »Die ist aber schwer!« Wir fahren wieder im Konvoi. Vorne ein Polizeiauto, in der Mitte das, in dem die Beamtin, ich und zwei Polizisten sitzen, dahinter noch eines. In Stadelheim führen sie mich durch Kellerverliese, immer tiefer hinunter in immer unheimlichere Gänge, was haben die vor, denke ich, spüre schon wieder die Panik aufkommen. Nach Ewigkeiten, so fühlt es sich wenigstens an, sperren sie eine Zelle auf. »Eintreten! Der Herr Wächtler kommt gleich.«
Trennscheibenbesuch. Auch so etwas, das mir von draußen fast schon vertraut ist, aus den linksradikalen Publikationen und den Erzählungen von Leuten, die RAF-Gefangene besuchten. Jetzt, Frau Strobl, sage ich mir, um eine Ironie bemüht, die ich nicht fühle, wird aus dem Begriff eine ganz praktische Erfahrung.
Die dicke Glasscheibe zieht sich durch den gesamten Raum. Zu beiden Seiten befindet sich eine, klar, in den Boden eingeschraubte Sitzbank. Mit einem Stuhl könnte ich ja versuchen, die Scheibe zu zertrümmern.
Ich setze mich. Auf der anderen Seite geht die Tür auf, ein Mann tritt ein, etwas älter als ich, groß, Lockenkopf, Neugier in den Augen, aber keine unangenehme Neugier: »Hartmut Wächtler«, stellt er sich vor. »Die Edith Lunnebach