Vermessene Zeit. Ingrid Strobl

Vermessene Zeit - Ingrid Strobl


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ich meinen Nacken nach hinten biegen kann, bis ich nur noch den Himmel sehe. Und die Flocken, die auf mein Gesicht herabsinken.

      Krah.

      Wo sitzt sie? Ich würde sie am liebsten anlocken, wie lockt man eine Krähe an?

      Krah. Krah.

      Da! Ich sehe sie! Sie sitzt im Baum, ganz nahe am Stamm, so dass sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Liebe Krähe, sage ich stumm, flieg nicht weg, bleib hier!

      Ich drehe weiter meine Runden, eine nach der anderen, komme mir vor wie in einem Film, einem klassischen Knastfilm, bloß meine grüne Lodenausstattung passt nicht. Falsches Kostüm. Die Krähe ist verstummt, dafür machen sich jetzt die Tauben bemerkbar. Eine hat damit angefangen, und nun gurren sie unermüdlich im Chor. Eintönig, ergeben, enervierend.

      Es schneit jetzt stärker. Die beiden Schließerinnen stehen unter dem kleinen Vordach der Tür und frieren. Aber ich kann sie nicht erlösen. Ich muss diese eine Stunde an der Luft bis auf die letzte Sekunde ausnutzen. Atmen. Gehen. Mit weit ausladenden Schritten, die nicht sofort wieder von einer Wand gestoppt werden.

       3

      Schlüsselrasseln. Langsam gewöhne ich mich daran. Eine Frau in Zivilkleidung, dunkles Wollkostüm, älter als die Beamtinnen, öffnet die Tür. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie kommt in die Zelle, ich stehe auf, wir sehen uns an. Sie ist die Gefängnisdirektorin, stellt sie sich vor. Prüfender, nicht unfreundlicher Blick. Ich schaue fragend zurück. »Ich hab Ihnen etwas mitgebracht«, sagt sie. Legt einen DIN-A4-Schreibblock und Briefumschläge auf den Tisch. Und drei Bücher. Das andere Geschlecht. Die Buddenbrooks. Eine zweisprachige Ausgabe der Göttlichen Komödie. Diese drei hatte ich mir aus dem Katalog der Gefängnisbücherei bestellt. Es waren die einzigen Bücher im Angebot, die ich lesen wollte, und ich habe dankbar gestaunt, dass es sie da gibt. Briefmarken, sagt die Direktorin mir noch, müsse der Bundesgerichtshof genehmigen. »Und schöne Weihnachten!«

      »Danke, Ihnen auch.«

      Sie erlaubt sich ein Lächeln.

      Ich frage mich, warum sie gekommen ist. Es ist bestimmt nicht ihr Job, Gefangenen Bücher zu bringen. Sie will mich abchecken, überlege ich. Ich passe nicht ins Bild. Richtige politische Gefangene reden nicht höflich mit den Schließerinnen.

      Muss ich mich wie eine »richtige« politische Gefangene benehmen? Wecke ich falsche Hoffnungen, wenn ich bin, wie ich bin? Denken sie dann: Die kriegen wir noch zum reden? Muss ich anders auftreten? Aber sie war freundlich. Die Beamtinnen waren bisher auch freundlich. Ich bin keine RAF-Frau, ich unterliege auch sonst keinem Gruppenzwang, ich muss die Beamtinnen nicht als Feinde sehen und mich weigern, mit ihnen zu sprechen. Es gibt für mich keine Verhaltensregeln. Und es gelingt mir nicht, diese Direktorin und die Aufseherinnen zu hassen.

      Draußen, aus der Ferne, war das leicht. Das Knastpersonal fiel nicht unter die Kategorie Mitmensch. Das waren die Schließer, die in den Hungerstreiks die Gefangenen zur Zwangsernährung schleppten. Mit denen die Gefangenen aus der RAF nicht sprachen. Büttel des Staates. Der Repression. Des Systems. Ich habe die Terminologie übernommen und ansonsten nicht darüber nachgedacht. Höchstens darüber, wie man freiwillig einen solchen Job machen konnte. Widerlich!

      Jetzt sitze ich hier und habe es mit Menschen zu tun. Mit Frauen, die mir bisher nichts Böses wollten. Die bayerisch sprechen. Was fast wie Tirolerisch klingt. Vertraut. Kann es sein, überlege ich, dass die sich alle verstellen? Um mich unvorsichtig zu machen? Um etwas aus mir herauszukriegen? Mein Instinkt sagt: nein. Aber kann ich meinem Instinkt noch trauen? Ist er durch den Schock der Verhaftung geschwächt? Versuche ich, mir etwas schönzureden? Weil ich diese fensterlose Zelle nicht ertrage, die Einsamkeit, das Verlorensein in diesem leeren Kellertrakt?

      Ich fühle mich unsicher, verunsichert, trotzig, ratlos. Die Gedanken flattern in meinem Kopf herum wie aufgescheuchte Tauben, die aneinanderprallen, taumeln, in die andere Richtung fliegen, erneut aufeinander losgehen … Im Hintergrund thront die Angst. Die Angst davor, was die mit mir vorhaben. Das Bundeskriminalamt. Die Bundesanwaltschaft. Und wer sonst noch immer. Die Angst, verurteilt zu werden, zu vielen Jahren verurteilt zu werden, meiner Mutter nicht beistehen, nicht zu ihr ins Krankenhaus kommen zu können, wenn sie wieder operiert werden muss. Die Angst, zu ersticken.

      Apropos, denke ich. Zünde mir eine Zigarette an. Hallo, Selbstironie, danke, dass du wieder aufgewacht bist! Die Gedanken-Tauben fliegen davon, fürs Erste. Ich beschließe, dass ich fünf Zigaretten pro Tag rauchen darf. Und morgen bitte ich die Schließerin, dass sie, während ich Hofgang habe, die Klappe in der Tür aufstehen lässt und das Fenster gegenüber auf dem Flur öffnet. Dann käme eine Stunde lang frische Luft in meine Zelle.

      Ich lege die Bücher nebeneinander. Am meisten freue ich mich über den Dante. Ich wollte die Divina Commedia schon immer in der Originalfassung lesen, im alten Italienisch, und nun kann ich das. Und habe sogar die Zeit dafür, denke ich und muss grinsen. Aber ich muss mir die Lektüre einteilen wie die Zigaretten. In der Knastbücherei gibt es nichts, das ich sonst noch lesen möchte. Und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis sie Bücher durchlassen, die mir Freundinnen und Freunde schicken. Also?

      Ich schiebe die Bücher hin und her. Am besten, ich lese den Dante morgens, da bin ich noch am frischesten, da ist mein Kopf am klarsten. Eine Stunde morgens. Zwei Stunden? Nein, ich muss sparen! Nachmittags eine Stunde Beauvoir. Abends eine Stunde Thomas Mann. Mal sehen, wie sich Tony Buddenbrook im Knast ausnimmt. Und was mache ich, wenn ich nicht lese? Oder singe?

      Die Panik kommt immer aus dem Hinterhalt. Sie kündigt sich nicht an, sie schnürt mir die Kehle zu, einfach so, aus dem Nichts. Die Luft gelangt aus der Kehle nicht mehr in die Brust, ich springe auf, strecke den Kopf nach oben, als könnte die Luft leichter durchkommen, wenn ich den Hals lang mache. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben, gleich geht es wieder! Hysterie breitet sich in mir aus, überall, im Körper, im Geist, in der Seele, ich will schreien, toben, auf die Wände einschlagen, gegen die Tür treten, ich bin kurz davor es zu tun, ich will das hier nicht, bitte, ich will das nicht!

      Ich setze mich auf das Bett, ziehe die Beine an, wiege mich vor und zurück. Vor und zurück. Schau, es geht schon. Geht schon wieder.

      Wenn ich weder lese, überlege ich, noch singe, noch Gedichte aufsage, dann schreibe ich eben. Und denke nach. Denken kann man immer.

       4

      In der Nacht hat es geschneit. Auf dem Boden liegt Schnee, auf einigen Fenstergittern glitzert Reif. Es ist Heiligabend. Ich gehe meine Hofrunde. Konzentriere mich auf den Schnee, den Weg, wage es nicht, den Blick zu heben, denn dann könnten mir die Tränen in die Augen schießen.

      Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, fahre ich Weihnachten zu meinen Eltern. Immer. Mein Vater hat dann den Baum schon geschmückt. Die roten, goldenen und silbernen Christbaumkugeln an die Zweige gehängt, die roten und weißen Vögelchen und die kleinen Kerzenhalter darangeklemmt, die neuen Kerzen in die Halter gesteckt. All das hätte er auch in diesem Jahr gemacht. Er wäre ein, zwei Schritte zurückgetreten und hätte übermütig das Lametta an den Baum geworfen. Es zurechtgezupft. Mit seinem ironischen Lächeln zu meiner Mutter gesagt: »Jetzt ist sie schon so groß, die Ingrid, und braucht immer noch einen Christbaum.«

      Dieses Jahr nicht, Papa. Nicht, dass ich ihn nicht brauchen würde. Aber ich kann nicht zu euch kommen.

      Ich möchte mich auf den kalten Boden setzen, in den Schnee, die Augen schließen, mein Gesicht mit den Händen bedecken und weinen. Weinen um meine Eltern, die meinetwegen diesen Horror durchmachen müssen. Die sich vermutlich nicht vor die Tür wagen, denn es könnten sie ja Nachbarn ansprechen. Womöglich lauern sogar Journalisten im Hausflur darauf, dass sie doch noch irgendwann herauskommen. Ich höre das Telefon klingeln, immer wieder und meine Mutter zu meinem Vater sagen: »Geh nicht dran! Geh bitte nicht dran!« Panik in der Stimme, Angst. So viel Angst.

      Mama, sage ich stumm, Papa, es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid.

      »Frau Strobl?« Die beiden Beamtinnen, die mich während der Freistunde bewachen,


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