Vermessene Zeit. Ingrid Strobl
einen Erscheinungstermin gibt.«
Letzteres ist gelogen. Alles andere ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
»Ich gebe das gerne weiter«, erwidert sie, steht auf und verabschiedet sich mit erlesener Höflichkeit.
Je länger ich an diesem Text schreibe, desto deutlicher wird mir bewusst, an wie wenig ich mich noch erinnere. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. In der viel passiert ist. Ich denke nicht, dass ich etwas verdränge, die wirklich wichtigen Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse, Gefühle, auch die schmerzhaften, sind mir, glaube ich, alle noch bewusst. Was mir nicht mehr einfällt, ist eher, wie lange etwas gedauert hat, wie etwas, das man mir erlaubt oder verboten hat, begründet wurde und wann das war, welches Buch ich wann gelesen habe, wann ich die erste Radiosendung schreiben konnte …
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich im Keller war, und wann man mich nach oben brachte, »auf Station«, in eine normale Zelle, in der ich aber weiterhin isoliert war. Ich weiß allerdings noch sehr genau, dass von da an immer wieder Frauen vor meiner Zelle standen, allen voran die beiden Monis, und mit mir durch die verschlossene Tür hindurch geredet haben. Sie wurden vertrieben, mit Einschluss oder gar mit Bunker bedroht, und kamen am nächsten Tag wieder, nachmittags, sobald sie Aufschluss hatten. Ich habe keine Ahnung, worüber wir geredet haben, viel war es ohnehin nicht, aber ich weiß noch, wie gut es mir getan hat. Und welche Sorgen ich mir gemacht habe, dass man sie vielleicht wirklich in den Bunker sperrte. Was aber nie geschah. Zumindest nicht meinetwegen.
Wenn die Frauen Hofgang hatten, habe ich aus dem Fenster geschaut, und wir haben uns zugewinkt. Es war schön, das jetzt tun zu können. Es war schön, jetzt jederzeit den Baum im Hof sehen zu können. Es war schön, das Gesicht an die Gitter gepresst in Richtung Sonne halten, den Wind auf den Wangen spüren, den Arm hinaus in den Regen strecken zu können. In den ersten Tagen nach der Kellerisolation habe ich immer wieder das Fenster geöffnet, um die Luft einzuatmen. Um hinauszuschauen ins »Freie«, auch wenn es nur bis zum gegenüberliegenden Gefängnistrakt reichte.
6
Heute kommen sie. »Für den Besuch Ihrer Eltern«, hat mir eine der Beamtinnen verraten, »müssen wir nicht nach Stadelheim, der läuft hier.«
Gestern durfte ich duschen, obwohl ich nicht dran gewesen wäre, nun sehen wenigstens meine Haare halbwegs vernünftig aus. Ich habe vor Aufregung schon zwei Zigaretten geraucht, habe mir unzählige Szenarien der Begrüßung ausgedacht, wie kann ich den Eindruck erwecken, dass es mir gutgeht und sie sich keine Sorgen machen müssen? Wie werden sie auf den BKA-Beamten und die Schließerin reagieren?
Sie bringen mich in einen anderen Gebäudetrakt, in einen Besuchsraum, der im Vergleich zur Trennscheibenzelle in Stadelheim etwas fast zivil Altmodisches hat, für mich jedenfalls. Wie er auf die Eltern wirken wird, weiß ich nicht. Ich stehe immer wieder auf, laufe herum, die Beamtin fordert mich auf, mich hinzusetzen, ich setze mich auf die Kante des Stuhls, stehe wieder auf … Und plötzlich rasselt der Schlüssel in der Tür. Der BKAler kommt herein, gefolgt von den Eltern. Meine Mutter wirkt noch kleiner und zarter als sie ohnehin ist, mein Vater hat etwas Beherrschtes an sich, versucht aber gleichzeitig so zu wirken, als würde ihn das ganze Ambiente nicht beeindrucken. Oder gar ängstigen!
Wir gehen aufeinander zu, ich nehme meine Mutter in den Arm, meinen Vater, der BKAler greift nicht ein. Wir gehen zu unseren Stühlen, setzen uns einander gegenüber, wissen nicht, was wir sagen sollen.
»Und der Herr horcht uns jetzt zu?«, fragt mein Vater in seinem spöttischsten Tonfall.
»Ja«, sage ich lachend.
»Das ist nicht richtig«, sagt meine Mutter. Böse. Entschieden. Dann leise: »Wie geht’s dir denn hier?«
Ich greife während des Gesprächs immer wieder nach ihren Händen, die auf dem Tisch liegen, übereinandergelegt, wie um sie vom Zittern abzuhalten. Ich erzähle vom Hofgang, wie ich meine Runden drehe und mir vorkomme wie in einem Knastfilm. Von dem schönen Baum, der da steht, und den ich jetzt noch ein bisschen schöner mache. Von den netten Briefen, die ich bekomme, der Solidarität, wie viele Leute mir helfen wollen, dass ich hier mein Buch schreiben werde, dass eigentlich fast alle hier sehr freundlich sind, dass es mir gesundheitlich gutgeht …
»Und wie ist das Essen?«, fragt mein Vater, die Lippen zu einem ironischen Lächeln verzogen.
»Super! Drei Sterne mindestens.«
Er lacht, meine Mutter bleibt todernst. Für sie ist dieser Besuch die noch größere Qual als für ihn.
Das Gespräch gerät wieder ins Stocken. Sie sind beide irritiert und gehemmt durch die anwesenden Beamten. Wir sitzen schweigend da, ich streichle ihre Hände und kämpfe mit den Tränen. Dann fragt mich mein Vater mit – gedämpft – provokantem Unterton, was ich denn hier alles dürfe. Ob ich überhaupt etwas dürfe.
Meine Mutter schielt ängstlich in Richtung Bewacher. Sie kennt ihren Mann. Was, wenn er jetzt etwas sagt, das mir schaden könnte? Aber mein Vater weiß schon, was er tut, er schätzt gut ab, wie weit er gehen kann, um seiner Tochter zu zeigen: Ich halte zu dir! Wir halten zu dir!
»Was können wir denn für dich tun?«, fragt er nun.
»Ihr tut doch schon so viel«, sage ich. »Danke, danke für alles!«
Bevor mir die Stimme bricht, erklärt der BKAler die Besuchszeit für beendet. Wir umarmen uns noch einmal, ich lege meine Wange an Mutters Gesicht, drücke meinen Vater fest an mich, dann werden sie hinausgeführt. Drehen sich an der Tür noch einmal um. Ich werfe ihnen eine Kusshand zu.
Die Eltern. Ich habe ihnen mit meiner Verhaftung und der Zeit im Gefängnis so viel zugemutet. Angst, Sorgen, Ungewissheit, verletzende Reaktionen von Nachbarn, Verwandten, Bekannten. Die Reisen, um mich zu besuchen … Nach meiner Freilassung haben sie mir erzählt, der BKA-Beamte, der bei ihren Besuchen für die Überwachung zuständig war, hatte sie gefragt, ob sie nicht mit ihm über mich reden wollten. Er könnte mir vielleicht helfen. »Da hab ich dem gesagt«, berichtete mir mein Vater, immer noch grantig ob der Unverschämtheit, »mit Ihnen red ich nicht über meine Tochter. Mit Ihnen red ich überhaupt nicht!« Woraufhin der es auch nicht mehr versucht hatte. Mein Vater konnte sehr überzeugend sein.
Ich hatte wundervolle Eltern. Sie haben mich geliebt, gefördert, mir geholfen, wo sie konnten. Sie haben mir beigebracht, immer darauf zu achten, wie es den Armen, den Chancenlosen, den Ausgegrenzten ergeht, und mich für sie einzusetzen. Was meine Eltern mir nicht beigebracht haben, ist zu hassen. Egal, wen. Menschen, die andere Menschen verachten, unterdrücken, ausbeuten, ihnen absichtlich Schmerz zufügen – gegen die musste man sich wehren, denen musste man sich entgegenstellen, und man durfte sich ihnen auf keinen Fall angleichen. Aber hassen? Nein. Noch nicht mal die. »Hassen macht hässlich«, sagte meine Mutter.
Ich habe dennoch manchmal gehasst. Und die bewundert, die zerstörten, was ich hasste. Meine Eltern haben diesen Hass in mir gespürt, und er hat sie beunruhigt.
Woher der Hass kam, weiß ich noch immer nicht. Ich weiß, was ihn motivierte, aber warum all das Unrecht, all das Elend, gegen das ich anschrieb, nicht nur Empörung in mir auslöste und den Wunsch, dagegen anzukämpfen, sondern auch Hass und eine Sehnsucht nach Zerstörung – ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. Zumindest keine, die mir völlig einleuchten oder ausreichen würde.
7
»Klappt das mit dem Aufschluss?« Hartmut stellt die Frage eher beiläufig. Understatement gehört zu seinen Qualitäten wie die Ironie. Ich strahle ihn trotzdem an, ganz und gar unironisch: »Ja, danke, es klappt!«
Ich kann jetzt nachmittags eine Stunde raus aus der Zelle, mit den anderen Frauen auf dem Flur zusammenkommen, sie in ihren Zellen besuchen. Ich darf sogar mit ihnen Hofgang machen. Ich habe die beiden Monis kennengelernt,