Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Kurt Rothmann
kein gutes Ende. Nicht nur, dass Sophie nicht weiter als bis Königsberg kommt – Betrug, Spionage und Entführung halten sie im Preußen des Siebenjährigen Krieges auf –, sondern diese schöne Waise kann sich zwischen zwei auf der Reise kennengelernten Liebhabern nicht entscheiden und verspielt, anders als die schwedische Gräfin von G., die Gunst beider. Sophies doppelsinniges Abschiedswort: »Ich geh’ nach Sachsen und komm’ als die Braut des würdigsten Mannes zurück«, nimmt ihr rechtschaffener Wohltäter Puf für ein Eheversprechen, und als solches versteht und achtet es auch der andere Liebhaber namens Less. ., auf den Sophie nun vergeblich wartet. Sophies Zögern gegenüber Puf gilt als leichtfertige Tändelei und als undankbare Sprödigkeit. Less . . empfindet mit Puf und schreibt empört an den gemeinsamen Freund Gros: »[…] lassen Sie uns nach dem ganzen Maß unsrer Kenntnis und Erfahrung drauf denken, die Sprödigkeit und alles, was unter diesen weiten Titel gehört, so verhaßt zu machen, als einige gutgesinnte Sittenlehrer die Frechheit verhaßt gemacht haben.« Das eben beabsichtigt auch Hermes mit seinem Briefroman. Doch Sophies doppelsinniges Ausweichen vor Pufs Eheangebot gründete nicht in Sprödigkeit, sondern im Verlangen, den Gatten selbst zu wählen und sich darin nicht zufälligen Gegebenheiten anzupassen wie die schwedische Gräfin von G. Dieser Eigensinn, der hier fehlschlug, fand günstigere Bedingungen in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771).
Wielands Kusine SOPHIE VON LA ROCHE (1731–1807) schrieb mit der Geschichte des Fräuleins von Sternheim ein Beispiel vorbildlicher Mädchenerziehung und wurde schlagartig berühmt als erste Romanschriftstellerin.
Wieder ist die Heldin eine schöne, wohlerzogene Waise. Eine gewissenlose Tante möchte sie zur Mätresse des Landesherrn machen. Das Fräulein flüchtet in die Ehe mit Lord Derby, aber dieser Casanova lässt die »Trauung« von einem als Pfarrer verkleideten Diener durchführen, um das schändlich entehrte Fräulein bald wieder zu verlassen. Das wechselvolle Schicksal folgt den von Richardson und Gellert her bekannten Motiven. Neu an der Geschichte ist, dass das Fräulein von Sternheim ihre Erniedrigung durch einen selbstbewussten Entschluss zur Sozialtätigkeit überwindet und an einer Gesindeschule unterrichtet. Diese Selbständigkeit der Heldin begeisterte Herder, Goethe, Lenz und die ganze junge Generation der Stürmer und Dränger, die hier bereits einen Anflug von Selbstbefreiung und Selbstbestimmung witterten und darüber vergaßen, dass das eigentliche Erziehungsideal der La Roche quietistische Gelassenheit war.
Ein ausgeprägtes Zeugnis rationalistischer Aufklärung ist der Roman Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773–76) von CHRISTOPH FRIEDRICH WILHELM NICOLAI (1733–1811). Lessings Freund Nicolai war durch eine streng pietistische Schule22 zu einem kämpferischen Freigeist geworden, der in allen seinen Schriften für Gewissensfreiheit eintrat.
Der aufrechte, etwas schrullige Pfarrer Sebaldus Nothanker hält sich nicht an das Dogma von der Ewigkeit der Höllenstrafen. Von dem orthodoxen Superintendenten Stauzius23 zur Rede gestellt, bekennt er, »er glaube nicht, daß es Menschen gezieme, der Güte Gottes Maß und Ziel zu setzen«. Wegen dieser Ansicht wird er des Amtes enthoben. Mit seiner Stelle verliert er sein Haus; seine Frau und ein Kind sterben darüber. Durch orthodoxe unduldsame Menschen verliert Sebaldus Nothanker auf einer langen leidvollen Wanderung immer wieder die Lebensgrundlage, sobald er frei seine Meinung sagt und dazu steht – und das tut er nun einmal.
»Weg!« rief Sebaldus, dessen Gemüt durch mannigfaltiges Unglück verbittert war, »weg mit den Geistlichen, sie sind an allem meinem Unglücke schuld! wehe mir! wenn ich mich wieder an sie wenden sollte!«
Zuletzt hilft ihm ein Lottogewinn.
Den damals viel gelesenen Erzählern der frühen Aufklärungszeit lag das Triviale24 oftmals allzu nahe. Die große Ausnahme war CHRISTOPH MARTIN WIELAND (1733– 1813), der neben Klopstock und Lessing der dritte Wegbereiter der Klassik war.
Wieland entstammte einer in Biberach ansässigen pietistischen Pfarrersfamilie. Von Haller und Klopstock beeindruckt, glaubte Wieland zunächst, er müsse selbst ein seraphischer Dichter werden; und Bodmer, bei dem Wieland lange Zeit zu Gast war, unterstützte den frommen, aber abwegigen Selbstentwurf seines begabten Schülers. Nach drei Verlobungen jedoch, nach erweiterter Lektüre rationalistischer Aufklärer, wie Voltaire, und nach der Aufnahme in aristokratische Kreise verwandelte sich der Seraph in sein Gegenteil; er wurde zum lebensfrohen Rokokodichter mit einer eigenen Philosophie der Grazien. Für den Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit, den Wieland in schwärmerischer Religiosität eben noch durch Entsagung verdrängen wollte, findet er nun eine ästhetische Lösung: Die Welt der Sinne wird voll bejaht, ihr Genuss aber durch mäßigende Vernunft, durch spöttische oder weise Überlegenheit und Anmut des Geistes zur Lebenskunst erhoben. Wie solche Lebenskunst zu erwerben sei, schildert Wieland in der Geschichte des Agathon, dem ersten großen Entwicklungsroman25 der neueren deutschen Literatur (in drei Fassungen 1766, 1773 und 1794 erschienen):
Der schöne Jüngling Agathon neigt, wie einst der junge Wieland, zu religiöser Schwärmerei. Doch der Betrug eines Priesters und die Nachstellungen einer liebestollen Oberpriesterin vertreiben ihn aus dem Tempel in Delphi.
Agathon flieht nach Athen, wo er zunächst Schüler des idealistischen Philosophen Platon, dann Politiker wird. Durch Mut und Aufrichtigkeit gewinnt er zwar die Liebe des Volkes, doch er scheitert am Hass der Reichen und des eigennützigen Adels:
Als Staatsverbrecher verbannt, fällt er in die Hände von Seeräubern und wird in Smyrna als Sklave an den Sophisten Hippias verkauft.
Hippias, ein genusssüchtiger Zyniker, der in einem »Tempel ausgekünstelter Sinnlichkeit« residiert, möchte Agathons idealistischen Humanitätsglauben zerstören: Er führt Agathon, dessen Idealismus er nicht fortschwatzen kann, schließlich zu der bezaubernden Hetäre Danaë, die in der Rolle der seelenvollen Unschuld den Jüngling betören soll. Doch Danaë wird stattdessen selbst von echter Liebe zu Agathon ergriffen und geläutert. – Aus Zorn darüber enthüllt Hippias Danaës Vergangenheit, worauf der enttäuschte Agathon entflieht.
Er wird Politiker am Tyrannenhof des Platonschülers Dionysius von Syrakus, scheitert an Hofintrigen und landet im Gefängnis.
Hippias meint, nun endlich sei Agathon vom Idealismus geheilt. Der Sophist bietet dem gefangenen Idealisten an, sein Nachfolger in Smyrna zu werden, doch Agathon lehnt ab. Er wird stattdessen von dem weisen Archytas von Tarent ausgelöst.
In der kleinen Republik Tarent, die Archytas im Sinne des Aufklärers Kant lenkt, findet Agathon Danaë wieder und auch seine delphische Jugendliebe Psyche, in der er jetzt seine Schwester erkennt. Die utopische Gesellschaft von Tarent, in der die Weisheit (Archytas) regiert und das Schöne (Danaë) wie das Gute (Psyche) beheimatet ist, ist ein Staatswesen, dem sich Agathon mit Vergnügen und Eifer dauerhaft widmen kann in der Überzeugung, »daß wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen gründet«.
Die in großartiger Prosa scheinbar umständlich ausgebreitete Geschichte des Agathon ist durchwoben von heiterer Ironie und feinen erotischen Stimmungen.26 Lessing rühmte den Roman als den ersten und einzigen für den denkenden Kopf; und Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796), der die geringgeachteten Romane als Nachfolgeform der Epen rechtfertigte, stützte seinen Versuch über den Roman (1774) vorzüglich auf Wielands Agathon.
Anspruchsloser und dadurch für manchen Leser noch vergnüglicher sind Die Abderiten (1774, Umarbeitungen 1778 und 1781). – Abdera war das antike Schilda, die Abderiten die Schildbürger, die ihren einzigen berühmten Sohn, Demokrit27, für wahnsinnig hielten und in dem Prozess um eines Esels Schatten ihren Staat aufs Spiel setzten, bis sie von heiliggehaltenen Fröschen aus Abdera vertrieben wurden und nun verstreut in aller Welt zu finden sind.
Noch zwei Verserzählungen Wielands verdienen besondere Beachtung: Musarion, oder die Philosophie der Grazien (1768) und Oberon (1780).
Musarion veranschaulicht humorvoll die notwendige Verteidigung der Erotik gegen Moralheuchelei und erläutert Wielands obenerwähntes Ideal einer harmonischen Vereinigung von Vernunft und Gefühl in der moralischen Schönheit, in der Anmut.28
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