"Darling Jane". Jane Austen – eine Biographie. Christian Grawe
stilisiert ist, aber doch aus unmittelbarer Nähe und intimer Kenntnis Jane Austens stammt. Henry war ihr Lieblingsbruder.
Die meisten Augenzeugen starben, ohne der Nachwelt ihr Wissen und ihre Eindrücke von Jane Austen zu hinterlassen. Erst als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Bücher immer beliebter wurden und ihr Ruhm sich immer weiter verbreitete, sammelten die nachfolgenden Generationen der Austens alles, was sich über Jane noch finden und erfahren ließ, und veröffentlichten es zwischen 1870 und 1913 in mehreren die Grundlage der Jane-Austen-Forschung bildenden Bänden. Sie wurden zwar nicht mehr von Familiendiskretion, aber dafür von viktorianischen Vorstellungen der Wohlanständigkeit geleitet. Manches wurde deshalb zurückhaltender behandelt, als dem heutigen Wahrheitsbedürfnis lieb ist, und so liegen das Leben der Schriftstellerin und ihre Ansichten über ihre Kunst zum Teil für immer im dunkeln. Dass sich um sie allerlei Mythen ranken, ist bei dieser Quellenlage nicht verwunderlich. Auf welches Material kann sich eine Biographie Jane Austens stützen?
(1) Überlebt haben in ihrer kleinen, ungewöhnlich gepflegten und leserlichen Handschrift 153 Briefe, von denen fast hundert an ihre Schwester gerichtet sind. Erst in den letzten drei Lebensjahren ist die Zahl der Adressaten größer und daher der Eindruck von Jane Austens Persönlichkeit weniger einseitig. Die Briefe wurden zum größten Teil in der Lebensbeschreibung Jane Austens von ihrem Neffen James Edward Austen-Leigh (A Memoir of Jane Austen, 1870), in der Briefausgabe ihres Großneffen Edward Lord Brabourne (1884) und in der Biographie ihrer beiden Seeoffiziers-Brüder durch die Nachkommen des einen von ihnen (1906) veröffentlicht. 1932 hat der Philologe R. W. Chapman alle erhaltenen Briefe in einer bis heute nicht überholten kommentierten Ausgabe herausgegeben.
Aber so dankbar man für diese erhaltenen Briefe sein muss, so wenig erschöpfend sind sie auch. Der erste Brief stammt von 1796, also aus Janes 21. Lebensjahr, so dass es aus ihrer Kindheit und Jugend keinerlei eigene Aussagen von ihr gibt. Zudem gibt es zwischen den brieflichen Äußerungen große zeitliche Lücken, einmal weil die beiden Schwestern den größeren Teil ihres Lebens zusammen verbrachten und daher häufig keine Veranlassung bestand, einander zu schreiben; zum anderen weil Cassandra offenbar für einige Lebensabschnitte die Briefe vernichtete. So fehlen etwa Briefe zwischen September 1796 und April 1798, Mai 1801 und September 1804, August 1805 und Januar 1807, Juli 1809 und April 1811, Juni 1811 und November 1812, und von 13 der insgesamt 21 Jahre sind nur ein, zwei oder drei Briefe überliefert. Die brieflichen Äußerungen Jane Austens erhellen also ihr Leben nicht gleichmäßig, sondern beleuchten daraus in Abständen nur einzelne Phasen
Obwohl diese Briefe für den Jane-Austen-Biographen außerordentlich reiches Material enthalten, sind manche Leser von ihnen enttäuscht, weil es sich dabei um Familienbriefe handelt und sie selten Themen außerhalb des häuslichen Lebensrahmens der Autorin berühren. Über die großen Begebenheiten der Zeit, über kulturelle Ereignisse, ihre Lektüre und Schriftstellerei spricht Jane Austen nur ganz gelegentlich. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens tauchen in den Briefen an ihren ältesten Neffen James Edward und ihre älteste Nichte Anna, die beide in jungen Jahren literarische Ambitionen hatten, und an den Bibliothekar des Prinzregenten Bemerkungen über das Romanschreiben und ihr Verständnis von Literatur auf. Was die Briefe trotz dieser Einschränkungen zur so erfreulichen Lektüre macht, sind die Menschlichkeit, die aus ihnen spricht, der Einblick in das englische Provinzleben um 1800 und der unverwechselbar heiter-ironische Jane-Austen-Ton.
(2) Die Manuskripte ihrer meisten Romane sind nicht erhalten; Entwürfe, Skizzen und Studien sind außer einem ausgeschiedenen Kapitel von Überredung nicht vorhanden. Wohl aber gibt es die Sammlung ihrer Jugendwerke, die sie selbst säuberlich in drei Hefte abgeschrieben und zum Teil datiert hat. Sie vermitteln einen höchst lebendigen Eindruck von der Entwicklung der Schriftstellerin Jane Austen, die ungefähr in ihrem zwölften Lebensjahr zu schreiben anfing. Diese frühen Versuche sind noch heute zum Teil wegen ihres Humors und parodistischen Geschicks ein Lesevergnügen.
(3) Die Bücher oder Aufzeichnungen ihrer Neffen und Nichten und deren Kinder und Enkel, die ab 1870 unter Verwendung von Familienbriefen und -dokumenten erschienen, haben die Kenntnis von Jane Austens Leben erheblich bereichert. Ihre Verfasser und Verfasserinnen, Nachkommen von dreien ihrer sieben Geschwister, kannten die Schriftstellerin oder doch einige ihrer Geschwister – Cassandra lebte bis 1845, ihr Bruder Francis sogar bis 1865 – noch persönlich oder waren jedenfalls mit den Familientraditionen vertraut. Das heute wichtigste dieser Werke aus dem Familienkreis ist Jane Austen. Her Life and Letters. A Family Record (1913, Jane Austen. Ihr Leben und ihr Werk. Eine Familienchronik) von William und Richard Arthur Austen-Leigh, Sohn und Enkel des ersten Biographen, James Edward Austen-Leigh, einem Sohn von Jane Austens Bruder James. Das Buch verarbeitet die früheren Veröffentlichungen und stellt daher, da später kaum neue Quellen zutage gekommen sind, die an glaubwürdigen Informationen und an Fülle des Materials reichhaltigste Lebensbeschreibung Jane Austens dar. Sie wird allerdings von dem erwähnten früheren Werk A Memoir of Jane Austen. By her Nephew (1870, Erinnerungen an Jane Austen. Von ihrem Neffen) an schriftstellerischem Geschick und Atmosphäre weit übertroffen.
R. W. Chapman, der Jane Austens Werke und Briefe zwischen 1923 und 1954 in der heute autoritativen Ausgabe herausgegeben hat, hat in seinem Buch Jane Austen. Facts and Problems (1948, Jane Austen. Tatsachen und Probleme) auch einen kompetenten Abriss der Probleme der Jane-Austen-Forschung gegeben. Auf Englisch ist zudem eine ganze Reihe von neueren Biographien Jane Austens verfügbar. All diesen Büchern verdankt der deutsche Biograph Fakten und Anregungen.
Erstes Kapitel
Steventon 1775–1801
I
Jane Austens Lebenszeit umfasst eine der ereignisreichsten und turbulentesten Epochen der europäischen Geschichte. Sie wurde am 16. Dezember 1775 geboren und starb mit nur 41 Jahren am 18. Juli 1817. In dieser Zeit wurde in Frankreich von 1789 bis 1799 durch die Revolution der Staat vollständig umgeformt und durch die Herrschaft Napoleons von 1799 bis 1815 Europa in Krieg und Chaos gestürzt. Die politische Ordnung des europäischen Kontinents wurde erschüttert, die soziale vorübergehend infrage gestellt. Fast ganz Europa wurde nach und nach in blutige und verlustreiche Kriege verwickelt, die in Deutschland zur Besetzung weiter Teile des Landes durch französische Truppen und zu einer tiefempfundenen nationalen Erniedrigung führten.
Jane Austen ist also eine Zeitgenossin von Ludwig van Beethoven (1770–1827), Heinrich von Kleist (1777–1811) und Madame de Staël (1766–1817), von Napoleon (1769–1821) und Königin Luise von Preußen (1776–1810). Aber von den inneren Erschütterungen und künstlerischen Krisen des Komponisten und des Dichters, von den plötzlichen äußeren Lebensumschwüngen des französischen Kaisers und der preußischen Königin ist in ihrem Leben nichts zu spüren, und das Wanderdasein im Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit, das das Lebenselixier der Französin war, die im gleichen Jahr wie sie starb, wäre ihr sicher ein Grauen gewesen. Madame de Staël, über die Rahel Varnhagen gesagt hat, »es ist nichts Stilles in ihr«, ist der genaue Gegentyp zu Jane Austen. Die Familienüberlieferung, nach der sie die Gelegenheit, der berühmten französischen Kollegin in London zu begegnen, ausgeschlagen hat, klingt durchaus glaubhaft.
Karte von Südengland
Zwar war England fast zwanzig Jahre lang in den Kampf gegen die Revolution und dann gegen Napoleons Empire verwickelt, aber die »splendid isolation« des Inselreiches verschonte es davor, den Krieg auf eigenem Boden führen zu müssen, und das funktionierende System der konstitutionellen Monarchie – damals trotz solider parlamentarischer Institutionen weit davon entfernt, eine Herrschaft für und durch das Volk zu sein – bewahrte das Land vor schwereren Krisen. Anders als auf dem europäischen Festland gab es deshalb hier keine Umstürze und staatlichen Notsituationen, und die Welt der englischen Provinz veränderte sich während dieser spannungsgeladenen Jahrzehnte nicht wesentlich – jedenfalls nicht in dem ausschließlich landwirtschaftlich bestimmten Süden. Dort verbrachte Jane Austen ihr ganzes Leben – abgesehen von kürzeren Aufenthalten in London – auf dem Land oder in kleinen Städtchen. Nie kam sie nach Norden weit über die Linie London–Bristol