Allein zu zweit. Katrin Bentley
1984, es war ein Samstag, rief plötzlich meine Mutter in der Schule an und teilte mir bestürzt mit, dass mein Vater eine Lungenembolie erlitten habe. Ich ließ meine Klasse in der Obhut einer anderen Lehrerin und fuhr, so schnell ich konnte, ins Spital. Als man mich nicht zu meinem Vater ließ, wurde mir klar, wie ernst die Lage war: Die Ärzte kämpften um sein Leben.
Der Anblick meiner Mutter brach mir fast das Herz, wusste ich doch, wie sehr sie ihn liebte. Ich drückte ihre zitternden Hände und redete beruhigend auf sie ein, aber sie schien mich nicht zu hören und wimmerte nur leise vor sich hin. Zusammen mit meinem Bruder und seiner Frau warteten wir und hofften, dass sich alles zum Guten wenden würde. Aber je länger wir warteten, desto größer wurde unsere Besorgnis. Endlich ging die Tür auf, ein Oberarzt kam auf uns zu und teilte uns sachlich mit, dass es ihm leidtue – »Wir haben alles versucht, konnten ihm aber nicht helfen. Er ist vor fünf Minuten gestorben.« Das kann doch nicht sein!, wollte ich schreien, er war doch so fit, so gesund und so lebensfroh! Aber da hatte der Arzt das Zimmer bereits wieder verlassen, um sich um andere Leben zu kümmern.
Nie werde ich diesen Tag vergessen, an dem ich in der Intensivstation zum letzten Mal das Gesicht meines geliebten Vaters sah. Ich stützte meine Mutter, die immer wieder versuchte, ihn aufzuwecken, und nahm tränenüberströmt Abschied von dem Mann, der meine Kindheit mit so viel Sonnenschein und Freude erfüllt hatte. Die Liebe meiner Eltern war so groß, und sie hatten noch so viele Pläne. Nun stand meine Mutter plötzlich allein da.
Die nächsten Tage verbrachte ich an ihrer Seite und versuchte, ihr etwas Halt zu geben, dabei hatte ich selber keinen mehr. Starr saß ich am Tag der Beerdigung, an dem sich mindestens 700 Menschen in der Thuner Stadtkirche versammelt hatten, um Abschied von meinem Vater zu nehmen, neben meiner Mutter und versuchte, mich auf die vielen Reden zu konzentrieren. Mein Vater war ein fröhlicher, positiver Mensch und hatte sich sein Leben lang für das Wohl seiner Mitmenschen eingesetzt. Er war mein Freund, mein Vorbild und meine Inspiration.
Mein Vater war im Spätherbst gestorben, der Winter danach war trostlos und schwierig. Ich besuchte meine Mutter, sooft ich konnte, aber die Lücke, die mein Vater hinterlassen hatte, klaffte wie eine offene Wunde zwischen uns. Ich versuchte, für sie da zu sein, hatte aber selbst keinen Ort, wo ich auftanken konnte. Sicher wären meine Freunde für mich da gewesen, aber ich fand keinen Trost darin, mit ihnen über meinen Verlust zu reden.
Kurz bevor mein Vater starb, hatte ich mich auf sein Drängen hin bei einem Hallentennisturnier angemeldet, an dem ich nun natürlich nicht teilnehmen wollte. Mein Tennislehrer ermunterte mich jedoch, dennoch anzutreten, was ich dann mit großem Widerwillen auch tat. Ich gewann das Turnier und damit die Tennistasche, von der mein Vater so geschwärmt hatte. Ich stellte sie daheim auf den Tisch und dachte an die schönen Zeiten, die mein fröhlicher Vater und ich im Tennisklub verbracht hatten. Er wäre stolz auf mich gewesen – aber eben, er war nicht mehr da.
Weihnachten verbrachten meine Mutter und ich allein, da mein Bruder arbeiten musste. Es war alles so trostlos ohne meinen Vater, aber wir versuchten, positiv zu bleiben – auch er hätte es so gewollt. Im Januar lernte ich meinen späteren Freund kennen. Ich mochte ihn auf Anhieb, und ihm schien es nicht anders zu ergehen. Er brachte wieder Fröhlichkeit in mein Leben, und das brauchte ich dringend, um für meine Mutter da sein zu können. Wir gingen Ski fahren, besuchten Rockkonzerte, spielten Tennis und kochten zusammen. Er war ein begeisterter Windsurfer und versuchte, auch mir diesen Sport näherzubringen, aber ich hatte kein Talent dazu. Viel lieber schwamm ich im See oder spielte mit Freunden am Ufer Frisbee.
Es war nicht meine erste Beziehung, aber so glücklich wie mit ihm war ich noch nie. Mein Freund wohnte mit einem Kollegen in der Nähe des Thunersees. Gern wäre ich mit ihm zusammengezogen, aber da er vor mir in einer sehr engen Beziehung gelebt hatte, wollte er jetzt, obwohl er mich liebte, erst einmal seine Freiheit genießen. Ich verstand, dass er viel Zeit mit seinen Kollegen und auf dem Wasser verbringen wollte, kam mir allerdings manchmal etwas überflüssig vor. Es lag mir fern, meinen Freund zu bedrängen, denn wenn wir uns sahen, hatten wir es immer schön. Aber bloß immer nur auf ihn warten mochte ich auch nicht, dazu war ich zu unternehmungslustig. Und so beschloss ich im Sommer 1986 spontan, mich auf eine Australienreise zu machen. Als ich meinen Freund fragte, ob er mitkommen wolle, überraschte mich seine Absage nicht. Er konnte nicht freinehmen und wollte später lieber einmal Südamerika sehen.
Als ich den Plan, nach Down Under zu reisen, mit meinen Freunden besprach, rieten sie mir ab. »Das ist ein Land für Männer«, sagten diejenigen, die sich bereits in das Land der giftigen Schlangen, Spinnen und Krokodile gewagt hatten. Aber ich lachte nur. Jetzt erst recht! »Du sprichst ja kaum Englisch«, war der Einwand meiner Mutter, und da musste ich ihr recht geben. Französisch und Italienisch konnte ich sehr gut, Englisch hingegen hatte ich in der Schule nicht gelernt. Das war allerdings kein Grund, mein Vorhaben aufzugeben. Im Gegenteil, ich hoffte, in Australien meine Englischkenntnisse verbessern zu können. Ich besuchte noch einen Anfängerkurs in Bern, lernte in der kurzen Zeit aber nicht viel mehr als »Where is the bus station?«.
Am 3. Januar 1987 war es dann endlich so weit. Ich saß im Flugzeug und warf einen letzten Blick auf die Felderlandschaft der Schweiz, die sich langsam entfernte. »Auf tolle drei Monate!«, sagte ich und hob schmunzelnd mein Glas Rotwein. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Reise mein Leben für immer verändern würde.
4
Die erste Zeit verbrachte ich bei Freunden meiner Eltern in Perth, die mich ins australische Leben einführten. Eines Tages fuhren wir mit ihren bereits erwachsenen Kindern in die Nähe von St. Margaret River und campierten dort in der Wildnis. Ich fand das toll, und als sie mich fragten, ob ich mit ihnen an den Strand spazieren wolle, war ich sofort begeistert. Alle trugen feste Schuhe, da es aber bloß ans Meer ging, zog ich meine Sandalen an. Bald stellte ich fest, dass das kein Spaziergang war, sondern eine dreistündige Wanderung. Es war unheimlich heiß, und wir mussten über etliche Stacheldrahtzäune klettern, bevor wir endlich ans Meer gelangten. Am Strand fragten mich die andern, ob ich mich ins Wasser traue. »Aber sicher«, lachte ich verwundert. Was dachten denn diese Australier! Wir Schweizer können doch auch schwimmen!
Alle Mädchen trugen Badeanzüge, ich selber hatte nur einen Bikini dabei; aber das war egal, Hauptsache, ich konnte mich abkühlen. Fröhlich rannte ich ins Wasser, wo ich wenig später von einem lauten Dröhnen überrascht wurde. Entsetzt sah ich, dass sich über mir eine haushohe Welle auftürmte und mich zu verschlingen drohte. Ich machte augenblicklich kehrt und versuchte, den Strand zu erreichen, aber schon riss mich die Welle unter Wasser. Als ich endlich prustend wieder an die Oberfläche kam, konnte ich gerade noch meine Bikinihose retten, die hilflos an meinen Knöcheln hing. Auf wackligen Beinen taumelte ich ans Ufer und setzte mich erschöpft in den Sand. Von dort aus sah ich bewundernd zu, wie meine australischen Freunde unbesorgt und selbstsicher durch die riesigen Wellen schwammen. Erst hinterher sagten sie mir, dass das Meer bei St. Margaret für seine Wildheit bekannt sei.
An jenem Tag merkte ich, dass Australien kein Land für Schwächlinge ist. Hier muss man die Natur ernst nehmen. Die Hitze ist extrem, die Distanzen sind riesig, und das Meer ist wild. Später am Lagerfeuer lachten wir noch lange über meine Bikinihose.
Nach drei tollen Wochen in Perth flog ich weiter in den Südosten nach Adelaide, wo drei Tage später, wie verabredet, meine Freundin aus Deutschland eintraf. Zusammen mieteten wir ein Auto und fuhren 2231 Kilometer der Küste entlang, über Melbourne, Sydney, Brisbane bis nach Noosa. Es war eine tolle Zeit! Die schöne, wilde Natur Australiens faszinierte uns immer wieder. Wir schwammen im Meer, wanderten durch Regenwälder und erforschten Nationalparks. Nachts schliefen wir auf Campingplätzen oder in Jugendherbergen, wo wir viele interessante Leute aus anderen Ländern trafen. Mit ihnen gingen wir hin und wieder auch im Busch campen, was ein ganz besonderes Abenteuer war. Es gab für mich nichts Schöneres, als morgens unter freiem Himmel vom Gezwitscher der Rosellas oder vom Lachen der Kookaburras geweckt zu werden. Da wir die meiste Zeit draußen verbrachten, war ich bald einmal schokoladebraun.
Die frische Luft und die Freiheit taten mir gut, aber die Zeit verging viel zu schnell. Bald musste meine Freundin wieder zurück nach Deutschland, und mir blieb nur noch eine Woche. Ich beschloss, meine Ferien