Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Porträt. Fritz Krafft

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Form der Atomistik ist allerdings auch ein vollständig erhaltenes, lateinisches hexame­trisches Lehrgedicht in mehreren Büchern des Epikureers Lu­krez (Titus Lucretius Carus) mit dem Titel ›De rerum natura‹ gewidmet, das posthum im Jahre 54 v. Chr. von Cicero herausgegeben wurde.

      Leukippos scheint direkt durch die scharfsinnigen Paradoxien Zenons gegen die Vielheit und Bewegung der Dinge und den Raum zu der Annahme von nicht weiter unterteilbaren klein­sten Teilchen geführt worden zu sein: Ohne ein dazwischen tretendes Leeres sei eine Zerlegung eines Körpers nicht möglich. Eine Zweiteilung von Körpern bis ins Unendliche (wie bei Ana­xagoras) setze deshalb voraus, dass die Körper auch bis ins Unendliche kleinste Hohlräume enthielten, ja schließlich nur aus Hohlräumen bestünden – also seien die Teilbarkeit und somit die Vielheit sowie als Voraussetzung dafür die Leere nichtseiend, hatte Zenon mit Parmenides geschlossen; also muss die Teilbarkeit eine untere Grenze haben, schloss dagegen Leukippos. Die Teilchen der Materie, durch die ein Körper stofflich und raumerfüllend ist, müssten folglich vollkommen frei von irgendwelchen Hohlräumen, also ganz ›voll‹ sein. Was aber überhaupt keine Leere enthält, ist unteilbar, griechisch ›atomos‹, und damit in jeder Hinsicht unverletzlich, also auch unveränderlich. Diese ›Atome‹ müssen aber als Seiende im Sinne des Parmenides auch unentstanden, einheitlich und – jetzt, als Kunstgriff: wegen ihrer Kleinheit – nur denkbar sein. Da Veränderung auf örtlicher Bewegung beruhe, komme ihnen als einzige Eigenschaft diese Bewegung zu; um sich als unveränderlich Raumerfüllendes bewegen zu können, bedürfe es des Platzes, des Nicht-Erfüllten, der Leere, des unbegrenzten leeren Raumes, in dem die deshalb unendlich vielen Atome jeweils unendlich vieler verschiedener Formen sich ungeregelt bewegen, sich anstoßen und dann wirbelnd zusammenballen, um sich durch stärkere äußere Einflüsse wieder zu entwirren. Nicht nur einzelne Dinge, sondern ganze Welten, unendlich an Zahl und Unterschieden, entstünden und vergingen so überall. Die Kohäsion wird neben der Wirbelbewegung durch mechanisches Ineinandergreifen dazu geeigneter Atomformen (Haken, Ösen und dergleichen) gedeutet. Aber nicht nur in der Form unterschieden sich die Atome, wie die Buchstaben A und N, sondern auch die Lage (wie N und Z) und die Gruppierung (AN/NA) führe zu anderen Gesamtformen und Wirkungen – erst Demokritos, aus dessen Schriften die Lehren des Leukippos in erster Linie bekannt wurden, scheint als vierten Unterschied die Größe hinzugefügt zu haben; denn er lässt auch Atome weit über der Sichtbarkeitsgrenze zu, etwa einatomige Gestirne.

      Aus solchen verschieden gestalteten, verschieden zueinander gelagerten und verschieden gruppierten, unteilbaren und qualitativ nicht unterschiedenen, von sich aus immer bewegten, unvergänglichen und unveränderlichen kleinsten vollen Teilchen bestünden alle sichtbaren und nicht sichtbaren Körper, auf ihnen beruhten all ihre scheinbaren Eigenschaften und deren Wahrnehmbarkeit (als Folge von atomaren Ausflüssen der Dinge, beim Sehen von kleinen ›Bildchen‹) – wie aus denselben Buchstaben die verschiedensten Texte unterschiedlicher literarischer Gattungen und Wirkungen entstünden. Ihre qualitativen und quantitativen Veränderungen seien scheinbar und beruhten auf solchen der Gruppierung und Lage der Atome oder auf einem Eindringen neuer Atome, die den alten Atomverband aber auch sprengen könnten. Die Formen müssen also so beschaffen sein, dass sie bei der Zusammenballung mehr oder weniger große Hohlräume lassen, wie sie auch zwischen den diskreten Dingen bestehen.

      Die ältere antike Atomistik konnte so zwar alle Dinge und Erscheinungen irgendwie deuten, aber nicht erklären, wie es zu diesen Dingen und Vorgängen kommt, da die Bewegungen ausdrücklich auf Zufall beruhen sollten; es fehlte ihr ein Prinzip, das immer wieder gleichartige Dinge entstehen lassen würde. Ein zweiter Grund für die generelle Nichtanerkennung der Ato­mistik in Antike und Mittelalter war der Widerspruch, dass sowohl das Seiende, die Atome, als auch das Nicht-Seiende im Sinne des Parmenides, die Leere, als gleichermaßen seiend, als existent gedacht werden mussten. Epikuros vermochte zwar später einzelne Einwände auszuräumen, konnte aber diese beiden fundamentalen auch nicht entkräften, so dass die Atomistik naturwissenschaftliche Bedeutung erst wieder als Modifizierung der ›minima naturalia‹-Lehre des Aristoteles erhalten sollte, die zu den neuzeitlichen Ansätzen einer Atomtheorie bei Da­niel Sennert und Robert Boyle führte, zumal Pierre Gassendi bereits bei seiner Neuerschließung der epikureischen Schriften einen starken Einwand des christlichen Mittelalters entkräftete, indem er die Atome als von Gott erschaffen statt als ewig und ungeworden deklarierte.

      Ein starkes Kriterium für die Ablehnung insbesondere auch durch die christlichen Philosophen und Naturwissenschaftler des Mittelalters und der frühen Neuzeit war aber die ausdrückliche Leugnung jeden Gottes und der Hedonismus bei Epikuros: Das Sein sei nicht transzendent hinter oder über den Dingen, sondern in ihnen, es bestehe in und aus den Atomen und stehe nicht im Gegensatz, sondern in Relation zum Werden; folglich könne dem Sein oder einem Seienden, das in die Ursache-Wirkung-Relation der Atomwirbel einbezogen sei, keine absolute Geltung zukommen, und gebe es keine außermenschlichen Normen und Rechte. Selbst die – als Konzession an die Tradition – menschengestaltigen Götter bestünden aus Atomballungen; sie seien zwar unvergänglich, könnten aber gerade wegen ihrer Unveränderlichkeit niemals Ursache für irgendein Geschehen sein. Sie stünden außerhalb dieser Welt und könnten von dieser auch nicht erreicht werden. Es gebe aber auch keine absolut gültige Aufgabe für den Menschen; die Erkenntnis von Naturvorgängen habe vielmehr ihren relativen Wert allein darin, den Menschen frei von Schmerz, äußerer Unruhe und Götterfurcht zu machen, ihm zu innerer Ruhe zu verhelfen. Diese Forderung nach Befreiung und Abschirmung gibt der Philosophie von Epikuros den Charakter einer Heilsbotschaft, die einerseits stärker als der naturkundliche Unterbau in Hellenismus und Spätantike wirkte und zur Entstehung kleiner sich nach außen abschließender Epikureerzirkel führte, die – wie das Beispiel des Lukrez zeigt – auch die Physik pflegten, andererseits aber Außenstehenden die unverstandene ganze Philosophie suspekt erscheinen ließ. Besonders die frühen Kirchenväter machten die Epikureer zum Inbegriff eines unmoralischen und gottlosen Lebens.

      Auch der Atomismus selbst unterscheidet sich bei Epikuros in einigen Punkten aufgrund der Berücksichtigung zwischenzeitlicher Einwände von dem älteren: Die Zahl der Formen der Atome ist nicht mehr unbegrenzt; für Größe und Gestalt gelten vielmehr Ausschlussprinzipien. Die ursprüngliche Atombewegung verläuft nicht vollkommen ungeordnet nach allen Seiten, sondern einheitlich von oben nach unten: Zufällige Abweichungen von dieser Richtung führten zu zusätzlichen Stoßbewegungen, woraus Wirbel entstünden, die eine Weltbildung einleiteten. Die Erkenntnistheorie ist im Anschluss an Empedokles und die älteren Atomisten und im bewussten Gegensatz zu Platon und Aristoteles rein materialistisch: Jede Erkenntnis beruhe auf Wahrnehmung, und alle Wahrnehmungen seien wahr – Irrtümer beruhten auf falschen Schlüssen und Urteilen –; denn sie entstünden durch atomistisch-materielle Bildchen (›eidola‹), welche von allen Dingen ausgestoßen und durch die passenden Poren in den Sinnesorganen zur menschlichen Seele dringen würden.

      Aristoteles

      (* 384 v. Chr. Stageira [Halbinsel Chalkidike],

       † 322 Chalkis [Insel Euböa]).

      Der wohl bedeutendste, zumindest einflussreichste Philosoph und Naturforscher des Abendlandes Aristoteles, der die ihm vorliegenden Gedankengebäude unter neuen Gesichtspunkten zusammenfasste und in sein System integrierte, entstammte einer alten Arztfamilie; der Vater Nikomachos war Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas. Für denselben Beruf bestimmt, ging Aristoteles nach Athen und trat mit 17 Jahren in die platonische Akademie ein, der er zwanzig Jahre als Schüler und Lehrer angehörte. Er hatte sich in dieser Zeit offensichtlich auch schon so weit von den Grundlehren Platons entfernt, dass dieser, um den Bestand seiner Schule und Lehre bedacht, nicht ihm, dem begabtesten seiner Schüler, die erhoffte Nachfolge in der Leitung der Akademie übertrug. Aristoteles folgte deshalb 347 dem Angebot eines ehemaligen Mitschülers nach Assos, verlegte aber bereits 345 seinen Wohnsitz nach Mytilene auf Lesbos, der Heimat des Theophrastos, mit dem er hier hauptsächlich Material für die gemeinsamen biologischen Forschungen sammelte. Im Jahre 342 folgte er einem Ruf Philipps II. von Makedonien an den Hof in Pella und wirkte hier als Erzieher des Prinzen Alexander, der nach der Ermordung Philipps 336 König von Makedonien wurde. Aristoteles war sicherlich ein Gegner der nun verstärkt einsetzenden Großmachtpolitik Makedoniens, besonders aber des orientalischen Gepränges, mit dem Alexander der Grosse sich umgab und das ihm viele


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