Verwildert. George Monbiot

Verwildert - George Monbiot


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feiner Schnur band ich die Waffe an den Stock und schärfte mit einem Stein die Spitzen. Das hätte sich erübrigt: Der Dreizack war noch immer spitz wie eine Nadel. Zur besseren Befestigung der Schnur war der Schaft kantig und unbearbeitet geblieben, aber die Spitzen waren rund, poliert und perfekt zugespitzt. Jede hatte vier Widerhaken, die identisch angewinkelt und angeschrägt waren. Das Instrument war für das Harpunieren von Arapaimas geschmiedet worden – Arapaimas zählen zu den größten Süßwasserfischen –, aber ich würde mich auch mit kleinerer Beute zufriedengeben.

      Zwei Wochen vergingen, bis ich wieder ans Wasser konnte. Ich paddelte an die Stelle, wo die Plattfische gewesen waren. Aber in dem Ästuar mit seinen beständig wechselnden Sanden gibt es kein »Wo«. Keinen festen Punkt, an den man zurückkehren könnte. Ich suchte vorwärts und rückwärts wie ein Hund, der seine Duftspur verloren hat, zog das Boot auf den Strand, durchwatete die seichten Stellen, überquerte die Kanäle und kreiste in den Tümpeln. Außer den silbrigen Meeräschen, die bei der Annäherung des Kajaks davonjagten, konnte ich nichts entdecken. Die Flundern waren verschwunden; das Plattfisch-Forum war unter einer Sandbank begraben worden.

      Drei Jahre, nachdem ich das erste Mal den Fischadler gesehen hatte, wollte ich es wieder versuchen. Am Strand war ein dezenter Trubel: ein Eiswagen, eine Handvoll Autos, ein paar Kinder plantschten und wateten in den schmalen Rinnen, die zwischen den Sandbänken eingeschlossen worden waren, als die Flut den Stöpsel zog. Hinter den Autos bekam ich ein wunderbares Schauspiel zu Gesicht. Eine sehr alte Dame mit einer verspiegelten Skibrille auf der Nase und einer Decke über den Knien fuhr auf ihrem elektrisch betriebenen Rollstuhl volle Kraft voraus. Sand spritzte von den Reifen. Sie schlitterte durch enge Kreise, holperte vorwärts und schleuderte über die von den Autos gegrabenen Furchen. Da schlug noch ein Herz.

      Ich blickte über die Flussmündung. Es war tiefste Ebbe. Auf See würde man das Stillwasser nennen, aber hier im Mündungsgebiet gibt es kein stehendes Wasser: das Wasser läuft den ganzen Gezeitenzyklus hindurch in unerwartete Richtungen. Zwei breite Kanäle und ein Netz aus Prielen, manche miteinander verbunden, manche Sackgassen, schneiden durch eine Wüstenei aus Sand. Jenseits des Wassers fiel die Sonne auf die pastellfarbenen Schatten von Drefursennaidd. Die auf der Reede neben dem Hafen ankernden Boote sahen so rosig aus wie Badespielzeug. Auf halber Strecke über dem Ästuar hing ein Wettervorhang: Die Hügel dahinter waren hinter silbernen Regenwänden verborgen. So verhält es sich die meiste Zeit im Jahr: Drefursennaidd bekommt nur halb so viel Regen ab wie Llanaelwyd 15 Kilometer landeinwärts; Llanaelwyd wiederum hat nur mit der Hälfte des Regens zu rechnen, der in Mwrllwch acht Kilometer weiter nördlich fällt.

      Ich schnallte den Speer an die Seite des Boots, bastelte mir einen Anker, knotete einen wasserdichten Beutel an eine der Klampen neben der Heckvertiefung, füllte die Taschen meiner Schwimmweste mit einem Messer, einem Notizblock, Polaroids sowie einer Garnrolle und zog das Kajak zu einem Graben, in dem noch ein kleines Rinnsal floss.

      In dieser Rille sah es aus, als ob eine Schlacht wütete. Sandgrundeln schossen mit kleinen Rauchwolken, wie aus Artilleriegranaten, davon. Baby-Plattfische ließen Bahnen von Flakfeuer entstehen, wenn ihr Schwanz beim Weghuschen alle paar Zentimeter den Schlamm traf. Schwerbewaffnete Bataillone trudelten seitwärts, Scheren schwenkten sich in meine Richtung. Doch bald war das Wasser tief genug, um das Boot zu tragen, und ich paddelte stromaufwärts los.

      Nichts rührte sich. Das Wasser lief in Kräuselwellen vom Kajak weg und schreckte an den Rändern des Kanals riesige Meeräschen auf. Sie pflügten in Halbkreisen durchs Wasser und schossen mit einem plötzlichen Aufspritzen davon. Beringte Regenpfeifer trippelten mit einem seltsam kehligen Trällern am Ufer entlang und segelten mir auf Sichelschwingen voraus. Ich roch den verfaulenden Seetang und hörte die merkwürdige Musik der Wattlandschaft: das Zischen und Knacken Millionen kleiner Geschöpfe, die sich in ihren Röhren bewegen. Auf den Sandbänken lagen die Trümmer von Baumstämmen und Ästen, die die letzten Fluten herangetragen hatten.

      Ein Knutt in ziegelrotem Brutgefieder lief über den Sand, senkte seinen Kopf und flog mit einem langgezogenen abfallenden Pfeifen auf. Eine Hummel, die auf dem Oberflächenfilm gefangen war, sendete hektische Barcode-Wellchen aus: sichtbar gemachter Klang. Ich ließ das Paddeln sein und trieb stromaufwärts in das Labyrinth hinein.

      Mich den Ästuar hinaufbewegend testete ich immer wieder das Wasser auf seinen Geschmack. War es salzig, bedeutete dies, dass ich in eine Sackgasse trieb, war es süß oder brackig, dass ich einem Kanal folgte, der mit dem Fluss verbunden war. An den meisten Tagen funktionierte das. Es war aber in der letzten Woche so viel Regen gefallen, dass das Wasser fast überall leicht nach Süßwasser schmeckte: Die Gezeiten mussten es hin und her bewegt haben. Ich kenne keine andere Methode, im Labyrinth der Kanäle zu navigieren. Es gibt keine visuellen Anhaltspunkte. Selbst wenn man aus dem Boot aussteigt und auf den Sandbänken steht, sieht man nur die großen Einschnitte. Die Rinnen, die einen halben oder einen Meter tiefer liegen als die aufgewölbte Sandfläche, bleiben unsichtbar, bis man beinahe direkt über ihnen steht.

      Ich paddelte blind weiter und gelangte bald in ein Netz von Bayous, mit von Strömungen ausgewaschenen Gräben, die nur durch kleine Rinnsale miteinander verbunden waren. Ich schlüpfte aus dem Boot und begann es durch diese Gerinnsel zu schleppen. Wo immer ich in tieferes Wasser kam, spürte ich Krabben gegen meine Füße stupsen. Sie bewegten sich wie ein Film, dem die meisten Einzelbilder abhanden gekommen waren: Sie tauchten auf, verschwanden, tauchten ein paar Zentimeter weiter wieder auf, schnellten mit so raschen Bewegungen mal da-, mal dorthin, dass man ihnen unmöglich folgen konnte. Auf der Sandbank ließ ein Kormoran seine Flügel trocknen.

      Das Wasser war warm und trübe, es hatte die Farbe von dünnem Tee. Der Sand hatte sich in einem Rippelmuster abgelagert, in den Trögen dahinter hatte sich eine Lache dunklen Humus gefangen. Die Rippelkämme formten blasse Halbmonde, so regelmäßig angeordnet wie auf einer Tapete. Bald wurde der Wasserlauf wieder befahrbar, aber jetzt strömte er mir entgegen. Ich arbeitete dagegen an, schmeckte, paddelte, spähte über die Seite. Strandkrabben zogen sich mit ihren orangenen Beinen in den Sand zurück, wenn der Bootsschatten über sie hinwegzog. Dicke Herzmuscheln (cockles) zeigten zwischen ihren leicht aufklaffenden Schalen einen Rüschenrand rosafarbenen Fleisches. Cockle. Das Wort rollte durch meinen Kopf: rund, mit einem Scharnier versehen, sich öffnend und wieder schließend wie das Tier, das es bezeichnete.

      Ein Brachvogel überquerte die Gezeitenödnis vor mir und schickte seine traurigen Schleiftöne über das Wasser. Hier im Watt war mir jedes Gefühl für Orientierung und Größenordnung abhandengekommen. Als ich um eine Biegung des Wasserlaufs herumfuhr, war ich verblüfft, zwei Menschen auf der Sandbank stehen zu sehen. Als ich mich ihnen näherte, breiteten sie die Flügel aus und flatterten davon. Am hinteren Rand der Salzmarschen bewegten sich Schafe im Gänsemarsch.

      Die sumpfigen Stellen flossen zu einem weiten niedrigen Becken zusammen. Als ich hindurchwatete, spürte ich etwas über meine Füße huschen. Ich drehte mich um und sah einen braunen Diamanten davonschwimmen. Er stoppte ein paar Schritte weiter und grub sich in den Sand. Ich merkte mir die Stelle, band rasch meinen Speer los, entfernte die Korken an seinen Spitzen und ließ das Boot treiben. Dann ging ich an die Stelle, wo sich der Fisch niedergelassen hatte. Eigentlich dürfte er sich nicht fortbewegt haben, denn sonst hätte ich noch Schlammwölkchen im Wasser hängen sehen müssen. Doch er war verschwunden. Ich probierte es an einigen vielversprechenden Aufwölbungen, aber der Speer sank nur in den Sand. Die Flunder war verschwunden wie ein Geist, der durch die Mauer geht. Ich werde mich wohl in der Stelle geirrt haben, dachte ich, und suchte alles ab, der Fisch aber war spurlos verschwunden.

      Ich ankerte das Boot, zog meine Schwimmweste und meine Regenjacke aus und zog einen Gegenstand aus der Trockentasche, den man auf einem Kajak nur selten zu sehen bekommt: ein weißes Hemd. Ich hatte ein paar Tage zuvor bemerkt, dass bei den meisten Vögeln, die sich von Fischen ernähren – Möwen, Tölpel, Sturmtaucher, Lummen, Reiher, Fischadler – der Bauch weiß gefärbt ist, was sie gegen den Himmel unsichtbar macht. Ich stakste, den Speer über der Schulter, den Kanal hinauf und versuchte meine großen Füße so ruhig ich konnte ins Wasser zu setzen. Ich muss eine schräge Figur abgegeben haben.

      Schon bald schreckte ich einen Plattfisch auf – zu klein, um ihn zu spießen – und sah zu, wie er sich wieder im Schlamm niederließ.


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