Zoe heißt Leben. Zoe Katharina
lernte ich die einzelnen Leute der Crew kennen, es war eine echte Herausforderung, sich auf die Schnelle so viele neue Namen zu merken.
Wenn man vor dem Herd stand, sah man durch die Bullaugen hinaus. Während ich den Couscous ins kochende Wasser tat, blickte ich auf lauter nackte Füße, die vom Achterdeck herunterbaumelten. Die Füße unserer Gäste. Nach jedem Topf beschlugen aber die Bullaugen mehr und mehr. Über unseren Köpfen befand sich jedoch ein Abzug.
»Können wir nicht den Abzug anmachen?«, fragte ich Lena.
»Nein, wenn Gäste an Bord sind, bleibt der zu. Es ist nicht fair, wenn sie das Essen riechen, sie wissen ja nicht, dass sie gleich etwas bekommen. Wer weiß, wann sie das letzte Mal was gegessen haben.«
Die Pappbecher, in denen der Couscous serviert wurde, waren nicht gerade groß.
»Davon soll man satt werden?«, wunderte ich mich. »Die Leute haben bestimmt riesigen Hunger!«
»Es ist besser, wenn sie erst mal kleinere Mengen Essen zu sich nehmen. Man weiß nicht, wann sie zuletzt was im Magen hatten«, erklärte Lena.
Ötzi, der gerade ein Tablett mit Essen zu unseren Gästen hinaustragen wollte, machte ein gequältes Gesicht:
»Mehr könnte ich auch gar nicht tragen, auch wenn ich der Ötzi bin.« Er tat, als ob er unter der Last der karg befüllten Becher zusammenbrechen würde. Ich freute mich über die Leichtigkeit seiner Sprüche – nahmen sie der Situation doch ein bisschen die Tragik …
In der Küche wurde es immer nebliger und heißer. Als ein Tablett zum Austeilen bereitstand, ergriff ich die Gelegenheit, um an Deck zu gehen, raus aus der stickigen Küchenluft.
Die Treppe hoch, an der Brücke vorbei und dann links, viel weiter kam ich nicht. Das Achterdeck war so überfüllt, dass sich mein Tablett im Nu leerte.
»Ich bin gleich wieder da«, erklärte ich denjenigen, die erwartungsvoll die Hand ausgestreckt hatten und nun leer ausgehen mussten. Die Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, aber keiner murrte auf. Diese Menschen waren Meisterinnen des geduldigen Wartens, das beeindruckte mich, da Geduld nicht meine Stärke ist.
Als ich mit einem gefüllten Tablett wiederkam, wurde ich von einem korpulenten Mann mit einem gestreiften T-Shirt aufdringlich nach Essen gefragt. Er saß auf den Knien und reckte beide Hände zu mir hoch. »Ich habe Hunger!«, sagte er immer wieder auf Englisch. Vor seinen Füßen stand aber ein leerer Becher, er hatte schon seine Ration Couscous gehabt.
»Tut mir leid, aber du hast schon etwas bekommen, ich hoffe, es reicht für alle«, antwortete ich ihm.
Er ließ nicht locker. Weiterhin streckte er seine breiten Hände zu mir aus und wiederholte seinen Satz immer lauter. Ich wurde ärgerlich. Dieser Mensch war in einem besseren Zustand als die meisten unserer Gäste. Sah er denn nicht ein, dass andere, die viel schwächer waren, auch Hunger hatten?
»Es geht nicht!«, sagte ich gereizt und ging weiter.
Als alle unserer Gäste versorgt waren, überkam mich plötzlich ein Heißhunger nach etwas Süßem. Ich lief zu meiner Kabine und kam mit einer Tüte Gummibärchen zurück, die ich auch den anderen in der Küche anbot.
»Sind die auch vegan?«, hob Ötzi skeptisch seine rechte Augenbraue.
»Ja, und auch noch sauer, die besten, die es gibt!«, erwiderte ich erfreut. Endlich einer aus der Crew, der sich als Veganer outete.
Während ich die prickelnde Süße auf der Zunge spürte, hatte ich auf einmal ein schlechtes Gewissen. Am liebsten hätte ich die restlichen Gummibärchen draußen an unsere hungrigen Gäste verteilt, aber wo sollte ich anfangen und wo aufhören? Dann fiel mir der korpulente Mann im gestreiften T-Shirt ein. Ich hätte ihm ruhig eine zweite Portion Couscous geben können, wir hatten heute genug Essen. Warum war ich so sauer geworden?, fragte ich mich. Er war offenbar an größere Mengen Nahrung gewöhnt. Aber mir ging es ums Prinzip: Ich kann es einfach nicht ausstehen, wenn jemand ohne Rücksicht auf die anderen auf seinen Vorteil bedacht ist.
Und ich fragte mich, warum er im Vergleich mit den anderen Geflüchteten von so stattlicher Natur war. Und warum er glaubte, dass ihm mehr zustehen würde als den anderen. Was für eine Vorgeschichte hatte er? Ich erinnerte mich an Zeitungsnachrichten, in denen es hieß, dass es auf Rettungsschiffen und auf dem europäischen Festland Fälle gab, wo Folterer erkannt wurden. Aber es stand ja unseren Gästen nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie Opfer oder Täter sind. Andererseits: Würde ich wirklich jemanden nicht vor dem Ertrinken retten, wenn ich wüsste, dass er andere gefoltert oder getötet hat? Wie kam ich überhaupt darauf, mir solche Gedanken zu machen? Könnte ich einen brutalen Mörder ertrinken lassen, wenn ich die Wahl hätte?
Würde ich nicht unrecht tun, überließe ich ihn einfach seinem Schicksal?
Dieser Gewissenskonflikt wurde sowohl vom Grundgesetz meines Landes (in Artikel 3) als auch von der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen aufgenommen, wo es im Artikel 1 heißt, dass »alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren« sind. Die UN-Menschenrechtscharta und unser Grundgesetz wurden nach den schrecklichen Kriegserfahrungen seitens der Staatengemeinschaft verfasst, um ein ziviles, humanitäres Miteinander auch in Kriegs- und Krisenzeiten einzufordern.
Mit diesen Inhalten bin ich groß geworden. Auch wenn mich in der Schule die endlosen Debatten in den Fächern Politik und Geschichte genervt hatten, erkenne ich heute, wie wertvoll und bedeutsam diese Menschenrechte für ein humanes und zivilisiertes Miteinander sind.
Die identifizierten Folterer, von denen ich in den Nachrichten gelesen hatte, stehen vor Gericht. Aber ich bin nicht in der Position einer Richterin, ich entscheide nicht über Täter und Opfer, denn das Recht auf Leben haben beide – auf der Lilly rette ich Menschen aus Seenot.
Der Duft von heißem Kakao
Es war bereits dunkel geworden. Mateo und ich waren fast fertig mit dem Einsortieren der Rettungswesten in die großen roten Säcke aus reißfestem Kunststoff. Wie meistens half uns Lucia bei dieser eintönigen Prozedur, die wir nach jeder Bootsrettung hinter uns bringen mussten: Schwimmwesten nach Größen sortieren, zusammenfalten und in eine bestimmte Reihenfolge in die riesigen Taschen legen. Denn wenn beim nächsten Einsatz wieder die Rettungswesten verteilt werden mussten, war Eile angesagt. Gleich würden wir die schweren Säcke an den vorgesehenen Platz auf dem Deck wuchten, und dann blieb die hoffentlich letzte Aufgabe für heute – den Motor mit Süßwasser durchspülen und schauen, ob genug Druck in den Schläuchen ist. Danach nur noch das Boot auftanken, und fertig.
»Hey, Leute«, sagte Lucia. »Habt ihr Lust auf eine heiße Schokolade? Ich kann schon mal eine kochen gehen.«
»Hipp, hipp, hurra!«, klatschte Mateo wie ein Kind in die Hände und wirbelte Lucia durch die Luft. Die beiden waren wirklich ein tolles Paar. Zwei, die sich liebten, die gleichen Ideale teilten und dafür auch die gleichen Strapazen auf sich nahmen, denn sie waren nicht zum ersten Mal zusammen auf einer Rettungsmission.
Als Mateo und ich nach getaner Arbeit in die Schiffsmesse kamen, duftete es schon nach heißem Kakao und nach etwas lecker Gebratenem dazu.
»Santa Maria!«, rief Mateo, »Churros! Ich liebe diese Teile!«
Während wir uns auf die Eckbank um einen der Tische gruppierten, kamen andere aus der Crew dazu. Der Duft von gebratenem Gebäck mit Kakao hatte eine magische Anziehungskraft nach dem anstrengenden Tag. Als Lucia den Teller mit den heißen, vor Fett triefenden Teilchen hervorzauberte, jubelten alle. Besonders laut war Ötzi:
»Wieso kann Lucia so gute Churros machen? Ich dachte, Churros kommen aus Spanien und nicht aus Portugal.«
»Und ich dachte, dass alle Ötzis eher aus den italienischen Alpen und nicht aus Österreich stammen?«, konterte Mateo.
»Der war gut«, sagte Ötzi. »Jetzt kapiere ich endlich, warum ich so gut Italienisch kann, obwohl ich es nie gelernt habe!«, und alle lachten mit.
Mir gefiel das, nach