Beethoven hören. Martin Geck

Beethoven hören - Martin Geck


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abgebogen wird, wichtig tun kann: Die Takte 394 bis 398 als Einheit betrachtet, könnte es so aussehen, als sei das Ganze nur eine wohl kalkulierte Caprice. Hört man jedoch den verfrühten Horneinsatz als solchen, so darf man durchaus von einem Kollabieren des Zeitbewusstseins sprechen – oder mit Jürgen Stolzenberg von einer »Vorwegnahme der ungeheuren Spannung des Durchführungsteils, die wie eine Erlösung oder eine glückliche Befreiung aus den zuvor durchlebten Kämpfen und Antagonismen erfahren wird«.29

      Für diesen Vorgang lassen sich unterschiedliche Metaphern finden: Da ist das ungeduldige Kind, das seinen Auftritt nicht abwarten kann und vorzeitig in die Szene platzt. Oder aber, den emphatischen Topos der Transzendenz aufgreifend: Da ist das Horn, das mit seinem pianissimo-Einsatz einer Stimme ›von jenseits‹ gleicht, die ihrerseits ungeduldig die Reprise ›einläuten‹ möchte. Das zum verfrühten Einsatz gedrängte Horn hat freilich nicht mit dem Wächter des Sonatensatz-Schemas gerechnet, der sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lässt! Kann man den Konflikt zwischen gewünschter und verordneter Zeit, zwischen Wollen und Sollen, musikalisch besser ausdrücken, als es Beethoven gelingt? Wobei das Geniehafte der kompositorischen Formung darin besteht, dass beides zu seinem Recht kommt.

      Das Thema des Hereinbruchs einer ›anderen Zeit‹ wird uns auch im folgenden Abschnitt beschäftigen.

      Plötzlichkeit: Vom Furor des Anfangens in der Fünften

      Da fragt sich einer: ›Wie lange noch will ich mich als Sinfoniker zurücknehmen? Wann wage ich endlich den großen Auftritt, den éclat gleich zu Anfang? Erste, Zweite und Vierte: Alle drei beginnen mit langsamen Einleitungen, als müsse ich mir den Auftritt erst verdienen. In der Eroica habe ich zwar schon mit dem ersten Akkord einen fulminanten Auftritt, doch bereits mit dem cis in Takt 7 beginnt der lange Weg bis hin zum sieghaften Finale. Nichts gegen Nummer eins bis vier. Doch in Nummer fünf muss mit dem ersten Ton der éclat her!‹

      Und da ist er dann, der éclat:

      Mit einer in ihrer Schroffheit unverwechselbaren Geste fortissimo mitten ins Geschehen hinein! Und von dort ohne Aufenthalt gleich weiter? Seit Beethovens Zeiten haben viele Generationen das Ereignishafte dieses Beginns wie auch der ganzen Sinfonie hervorgehoben. Cosima Wagner notierte ihrem Tagebuch:

      Richard spricht beim Frühstück von der c-Moll-Symphonie, sagt, er habe viel über sie nachgedacht, es sei ihm, als ob da Beethoven plötzlich alles vom Musiker hätte ablegen wollen und wie ein großer Volksredner auftreten; in großen Zügen hätte er da gesprochen, gleichsam al fresco gemalt, alles musikalische Detail ausgelassen, was noch z. B. im Finale der Eroica so reich vorhanden wäre.30

      Vermutlich hat Wagner den Ausspruch »So klopft das Schicksal an die Pforte«, den Anton Schindler als Äußerung Beethovens überliefert, nicht gekannt. Ich selbst halte ihn nicht von vornherein für eine Erfindung des eifrigen Adlatus, plädiere jedoch dafür, ihn in erster Linie als drastischen Hinweis auf die vom Komponisten intendierte Art der Ausführung zu verstehen:31 Das würde dafür sprechen, dass ihm die Dejà-vu-Erfahrung des Klopfens, die der Hörer machen sollte, über die Vorstellung eines sich autonom entwickelnden motivisch-thematischen Prozesses ging, also das körpersprachliche über das strukturelle Moment.

      Der musikwissenschaftlichen Zunft deutscher Herkunft darf man mit der genannten Erinnerung des ja in der Tat unzuverlässigen Zeugen Schindler nicht kommen: Man empfindet die Rede vom »Schicksal« dort in der Regel als peinliches Haschen nach programmatischer Gewissheit. Freilich ist die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, dass Beethoven selbst gern vom »Schicksal« sprach – so auch im »Heiligenstädter Testament«, das in zeitlicher Nähe zu den Vorarbeiten zur Fünften entstand. Schon von daher könnte es Sinn ergeben, diesen »Schicksals«-Kontext ernst zu nehmen. Ich will hier jedoch auf etwas anderes abheben, nämlich auf die im Untertitel meines Buches auftauchende Metapher des »Geistesblitzes«. Wann hat es zuvor in der Musik einen so fulminanten (wörtlich: blitzenden) Beginn eines Musikstücks gegeben? Und wann danach?

      Gleichwohl wird man nach einem Studium der Literatur zur Fünften feststellen, dass sich die ›Profis‹ der musikwissenschaftlichen Strukturanalyse für diesen Geistesblitz kaum interessieren, solches vielmehr den ›Laien‹ überlassen. Sie selbst beschäftigen sich vor allem mit den »thematischen Prozessen«, die das »Klopf«- oder »Kopf«-Thema auslöst. Da kann man seine ganze Kunst zeigen, dem Komponisten auf die Schliche zu kommen. Nichts gegen diese Kunst! Peinlich ist höchstens, dass – wie Peter Gülke in der Tradition Richard Wagners bemerkt – »die Identität des Abgehandelten« nicht von Anfang bis Ende des Werks »gesichert« erscheint, dass es vielmehr »Wanderungen ins Ungewisse« gibt, dass die thematische Arbeit gelegentlich »zugunsten des Vorgänglichen«, also des aktuellen Ereignisses, zurückgestellt wird und dass das hymnische Finale eher ein »Auffangbecken« für »zuvor latent vorhanden Gewesenes« als das Resultat folgerichtiger thematischer Prozesse darstellt.32

      Zurück zum Anfang der Sinfonie: Es macht Sinn, die Assoziation des Klopfens gänzlich beiseite zu lassen und sich stattdessen einer weiter gefassten Kategorie zu erinnern, die Karl Heinz Bohrer ins Zentrum seines literaturkritischen und ästhetischen Denkens gerückt hat: derjenigen des Jetzt, des Plötzlichen, der Epiphanie, des Schreckens. Wiederum ist nicht entscheidend, was geschieht, sondern dass es geschieht – im Sinne eines Ereignisses, das einen mit der Historie nicht mehr identischen Augenblick darstellt.33 Eines von Bohrers Beispielen ist der unvermutete Auftritt Napoleons vor seinen Generälen, als diese über die Strategie der bevorstehenden Schlacht parlieren. Der Korse habe nur die Worte »Du pain, des olives et du silence« gesprochen, mit der Linken die vor ihm ausgebreitete Landkarte in die passende Richtung geschoben und mit der Rechten auf den Punkt gedeutet, wo der Angriff zu beginnen habe. Damit sei die Sache entschieden gewesen; und in diesem »erhabenen«, von keiner Logik einzufangenden Moment des selbstreferentiell Phantastischen erlebt Bohrer die Größe der Geschichte.34

      Man kann diesen Gedanken mühelos auf den Anfang von Beethovens Fünfter übertragen. Ohne der Bewunderung des Komponisten für Napoleon oder seines mutmaßlichen Ausspruchs »So klopft das Schicksal an die Pforte« gedenken zu müssen, nimmt der Hörer eine feldherrnhafte Geste wahr, die Beethovens Vorgängern noch nicht zur Verfügung gestanden hätte: Während die unkonventionellen Anfänge selbst einer Haydn-Sinfonie alsbald in traditionelleres Fahrwasser geraten, setzt Beethoven das mit der Historie nicht mehr identische, vielmehr einzig von ihm selbst herbeigeführte Jetzt in Szene – im Sinne einer letztendlich unerklärten, der Erklärung aber auch nicht bedürftigen Herrschergeste. So aufschlussreich es sein mag, den weiteren Weg des Eingangsmotivs mit den Augen des Strukturanalytikers zu verfolgen und damit der motivisch-thematischen Arbeit des Komponisten die nötige Reverenz zu erweisen, so produktiv könnte es sein, das selbstreferentiell phantastische Moment dieses Beginns als pures Zeichen auf sich wirken zu lassen.

      Fraglos wäre Beethovens Genieblitz nichts wert, wenn er nicht als Ausgangspunkt für eine grandiose Komposition diente. Ebenso marginal wäre auch Napoleons Feldherrengeste, wenn sie nicht Auftakt zu einer großen Schlacht gewesen wäre. Ich habe also – noch einmal sei es gesagt – keinerlei Interesse, kluge Analysen des der Eingangsgeste abgewonnenen Tonsatzes abzuwerten. Vielmehr setze ich mich für die Interessen der Hörer ein – und damit für meine eigenen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich postuliere: ›Aus einem banalen, viertönigen Einfall macht Beethoven einen gewaltig dahinstürmenden Satz oder gar eine ganze Sinfonie.‹ Oder ob ich mich von einem urplötzlich heranbrechenden numinosen Geschehen überwältigen lasse – zunächst einmal ohne alle weitere Erwartung.

      Es gibt für diesen Vorgang ein schönes Beispiel in der klassischen Literatur: Die Peripetie in Schillers Wallenstein wird eingeleitet durch eine hochdramatische Stelle, zu der die Regiebemerkung lautet: »Es geschehen Schläge an die Tür« – »Schicksalsschläge«, wie der Literaturwissenschaftler Alfons Glück sie nennt. Auch im Wallenstein handelt es sich um ein symbolträchtiges Moment, das nicht weiter erklärt, sondern als ein quasi aus der Zeit herausgehobenes Zeichen in Szene gesetzt wird.

      Man mag


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