Beethoven hören. Martin Geck
ist es nicht einmal unwichtig zu wissen, dass im 19. Jahrhundert das ›Tischrücken‹ oder ›Tischklopfen‹ en vogue war: Robert Schumann interessierte sich höchlichst dafür und forderte bei Gelegenheit von seinem Tisch das Klopfmotiv der Fünften. Dieses wurde »erst etwas langsam«, auf Nachfrage dann im »richtigen Tempo« geliefert.35
Der Komponist und Beethoven-Verehrer Schumann lässt das Klopfmotiv gleichsam aus einer anderen Welt zu uns dringen. Ohne diese fast magische Sicht übernehmen zu müssen, kommt man um das Thema »Weltbezug« nicht herum. Droht uns die Welt mit dem Klopfmotiv? Oder rufen wir mit ihm in die Welt hinein? Jedenfalls handelt es sich um ein besonderes In-Verbindung-Treten mit der Welt, wie es an ›normalen‹ Themen weniger deutlich wird.
Zu den Wundern der Musik gehört es, dass dieses Medium in Noten fest umrissen ist, sich gedanklich oder verbal jedoch nicht eindeutig fassen lässt. Linguistisch gesprochen: Für den Signifikanten, nämlich die genau definierte Tonfolge, gibt es kein eindeutiges Signifikat, also keinen festliegenden Sinn. Was diesen angeht, bleibt uns nur die Metapher.
Das muss nicht die Metapher des Klopfens sein. Wichtiger ist, das übergeordnete Moment an der Eingangsgeste der Fünften wahrzunehmen, nämlich das des Erschreckens in aktivem und passivem Sinne. Damit sind wir sogar als Musikologen wieder auf sicherem Boden, denn es gibt für diese Geste innerhalb der Musikgeschichte sowohl Vorbilder als auch Parallelen: Johann Sebastian Bach bedient sich zur Illustration der Worte »Warum wollt ihr erschrecken« im Weihnachtsoratorium eben dieses Motivs:
Franz Schubert verwendet es im Der Tod und das Mädchen zu den Worten: »Vorüber, ach, vorüber! geh’ wilder Knochenmann!« und in der Forelle zu der Verszeile: »und eh’ ich es gedacht«.
Das numinose Klopfen des Anfangsmotivs – es möge bedeuten, was es wolle – soll man körperlich spüren und als ein unerwartetes Naturereignis wahrnehmen – jedoch vor dem Horizont einer Kunst, die das Materielle zum Leuchten bringt und ihm Einmaligkeit verleiht. Schwärmerisch, jedoch keineswegs unsympathisch, postuliert George Steiner, dass es »Anliegen und Privileg des Ästhetischen« sei, »das Kontinuum zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, zwischen Materie und Geist, zwischen dem Mensch und dem ›anderen‹ zu erleuchteter Gegenwart zu erwecken«.36 Die mystischen Momente dieser Deutung sind unverkennbar. Doch sind nicht Musik und Mystik einander verschwistert?
Diese Frage stellt sich auch weiterhin, wenn man den Verlauf der Sinfonie betrachtet. So stößt man im Kopfsatz im Umfeld der Reprise auf ein Oboensolo, das diesem Satz – darin dem anfänglichen Klopfmotiv vergleichbar – als gleichsam exterritoriales Wahrzeichen vorgegeben ist und außerhalb des eigentlichen motivisch-thematischen Prozesses steht. Schon Richard Wagner beklagte, dass diese »ergreifende Kadenz« im Orchester üblicherweise »verlegen heruntergeblasen« werde, während ihm selbst von hier aus »ein den ganzen Satz belebendes neues Verständniß« aufgegangen sei.37
Was meint Wagner damit? Augenscheinlich stellt Beethoven den harschen, »von außen« hereindringenden Tönen des Klopfmotivs die Antwort einer »inneren« Stimme entgegen. Diese ist, wie gesagt, der Oboe anvertraut, seit jeher Ersatz, ja Synonym für die menschliche Stimme: Nicht von ungefähr heißt sie als Orgelregister vox humana. In Beethovens Musik vertritt der Gesang der Oboe in unterschiedlichen Nuancierungen die Idee der Humanität – so am Schluss des 1. Klavierkonzerts. Bereits dort ist jener emphatisch an die Menschheit appellierende – erst beseligte, dann festliche – Ton hörbar, den Beethoven künftig immer wieder anschlagen wird.
Mit dem Seufzer der Hoffnung macht der Komponist deutlich, dass er das unerbittlich drängende Klopfmotiv nicht ungeschoren auf die Zielgerade der Reprise schicken, ihm vielmehr einen Antipoden entgegenstellen will. Dieser trägt freilich Züge kreatürlichen Leidens, nicht solche tapferer Selbstbehauptung. Gleichwohl hat der kurze Moment etwas von Steiners Vorstellung einer »erleuchteten« Gegenwart, die sich dem Prozessdenken der traditionellen Analyse entzieht.
Freilich kennt die Fünfte auch einen Prozess: Er führt über das Scherzo zum sieghaften Finale, ist freilich alles andere als ein Musterbeispiel für motivisch-thematische Konsequenz. In dem mysteriös-spannungsvollen Übergang in das Finale, den Louis Spohr das einzig Interessante an der ganzen Sinfonie fand, übernimmt nämlich die Pauke die Rolle eines numinos sprechenden Instruments und damit eine Aufgabe, wie man sie bisher bestenfalls aus der wortgebundenen Musik kennt. Ist das ›Ende des Tunnels‹ erreicht und der Weg zum definitiven éclat triomphal frei, so scheint sich eine Bühne aufzutun, die sich schlagartig solcherart erhellt, dass man die mit Piccoloflöte, drei Posaunen und Kontrafagott zum Orchester hinzutretenden Militärmusiker nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen vermeint.
Schon E. T. A. Hoffmann hat sich 1810 in seiner Rezension der Fünften – der ersten bedeutenden Besprechung dieses Werks überhaupt – für derlei zeichenhafte Momente interessiert. Der Zeitgenosse sieht in Beethoven einen modernen Weltenschöpfer, der seine phantastischen Spuren am Kunsthimmel hinterlässt. Demgemäß spricht er vom »Ungeheueren und Unermeßlichen« dieser Musik und davon, dass sie »die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes« bewege. Das dissonierende »c« der Pauke in der Überleitung vom Scherzo zum Finale erinnert ihn an eine »Geisterfurcht« erregende, »fremde, furchtbare Stimme«, während der Eintritt dieses Finales »wie ein strahlendes, blendendes Sonnenlicht« wirke, »das plötzlich die tiefe Nacht erleuchte«.38
Ich betrachte solche Äußerungen nicht als sachfremde poetische Ergüsse, die bestenfalls einem romantischen Dichter gebühren, sondern als weiterhin aktuelle Beiträge zum Beethoven-Diskurs. Sie bilden das notwendige Korrektiv zu dem Glauben, man könne dem Komponisten durch nackte Formanalysen auf die Schliche kommen. Freilich hat man wenig davon, sie nur zu lesen. Sie müssten sich vielmehr mit dem Musikerleben durchdringen und Hörerinnen und Hörer zu eigenen Fantasien ermutigen.
Entzauberung und Illusionsbrechung: die Achte
Ist die gelegentlich stiefmütterlich behandelte Achte ein Schlüsselwerk? Sie ist es insofern, als in ihr ein desillusionierter Beethoven das Wort ergreift, nämlich ein Komponist, der an der Wirkungsmacht seiner idealistischen Botschaft entschieden zweifelt und künftig andere Wege gehen wird. Diese fallen jedoch höchst unterschiedlich aus. Außer dem Weg der Achten, von dem nunmehr die Rede sein soll, gibt es den Weg des wilden Sich-Aufbäumens – exemplarisch in der Hammerklaviersonate op. 106, im 1. Satz der Neunten und mittelbar auch in deren Finale sowie in der Großen Fuge op. 133. Oder den Weg der »Ergebung« (ein Lieblingswort des späten Beethoven), den der Liedzyklus An die ferne Geliebte op. 89 und die späten Klaviersonaten op. 109 bis op. 111 markieren. Die letzten Quartette spiegeln schließlich den Versuch, ein heikles Gleichgewicht zwischen diesen beiden konträren Gemütslagen herzustellen.
Keine Ankündigung ohne Vorankündigung: Bereits das Finale der Siebten, das zwischen orgiastischem Taumel und militärischer Straffheit schwankt, verdeutlicht, dass die idealistischen Lösungsvorschläge der Fünften und Sechsten nicht mehr taugen – also weder die ungebrochene ›Befreiungstheologie‹ der Fünften noch die Naturfrömmigkeit der Pastorale.
In der Achten ist es dann endgültig so weit: Kunst spiegelt nicht länger die Suche nach Sinnhaftigkeit, sondern drückt vielmehr deren Verlust aus. Der Sinfoniker Beethoven demonstriert seinen Hörern, was es heißt, ins Leere zu laufen. Vor allem das Allegretto der Achten verdeutlicht solchen Leerlauf auf das Drastischste. Die neuere biographische Beethoven-Forschung hat zwar keine sichere Antwort auf die Frage, ob und wie der Komponist in diesem Allegretto das Abschnurren eines Musikautomaten oder die Mechanik des Mälzelschen Metronoms auf Korn nehme. Doch das ist zum Verständnis