Ludwig van Beethoven. 100 Seiten. Stefan Siegert

Ludwig van Beethoven. 100 Seiten - Stefan Siegert


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So taucht die Trunksucht der Großmutter Beethovens in der nächsten Generation wieder auf. Ihr Sohn Johann wird den Erwartungen seines in Bonn so erfolgreichen Vaters nicht gerecht, auch er entwickelt im Lauf seines Lebens eine immer stärker werdende Neigung zum Alkohol. Er bringt es immerhin zum Tenoristen der Bonner Hofkapelle, ist in seinen besseren Zeiten ein angesehener Musiklehrer und versucht erfolglos, dem übergroßen Schatten des Vaters durch die eigenmächtige Heirat mit Maria Magdalena, der Tochter des kurfürstlich-trierschen Oberhofkochs Keverich aus Ehrenbreitstein, zu entkommen. Beethovens Großvater und Vater, ein weiteres Lebensmotiv dieser Familie, sind in ihren Ehen unglücklich. Beethoven selbst wird die Partnerwahl gänzlich misslingen. Auch er wird in abgewandelter Form einen Hang zum alleinigen Erziehen eines männlichen Familienmitglieds entwickeln. Er wird nie trunksüchtig sein, aber auch sein Verhältnis zum Alkohol wird ein nicht unerhebliches Restrisiko bergen.

      Großvater Louis stirbt Weihnachten 1773. Sein ihn lebenslang verehrender Enkel kennt den Alten eher aus Erzählungen der Nachwelt. Irgendwann vor Ludwigs sechstem Geburtstag ziehen seine Eltern mit ihm und den beiden inzwischen zur Welt gekommenen Brüdern aus der Bonngasse, mit einer kurzen Zwischenstation im Dreieck 7, ins selbe Haus in der Rheingasse, in dem schon der Großvater wohnte. In den Räumen unter ihnen leben seit langem die Vermieter, der Bäcker Theodor Fischer und seine Familie. Bäckersohn Gottfried Fischer und seine Schwester Cäcilia haben sechzig Jahre später aus der Erinnerung viel zu erzählen, als die musikliebende Welt in den 1830er Jahren nach Bonn strömt, um über die frisch verstorbene Bonner Weltberühmtheit Ludwig van Beethoven alles zu erfahren. »Er lag eines Morgens im Fenster seines Schlafzimmers nach dem Hof zu«, heißt es da etwa über die Wesensart des kleinen Ludwig, »hatte den Kopf in beide Hände gelegt und sah ganz ernsthaft aus. Cäcilia Fischer kam über den Hof und rief: Wie siehts aus, Ludwig? Keine Antwort. Später fragte sie ihn, was das zu bedeuten gehabt hätte, keine Antwort sei ja auch eine Antwort. O nein, sagte er, entschuldige, ich war da in einen so tiefen schönen Gedanken versunken, dass ich mich gar nicht stören lassen konnte.«

      Der Vater erteilt ihm früh schon Unterricht am Klavier, auf Geige und Bratsche. Das erscheint umso dringlicher, als der Kleine beim Lehrer Huppert in der Elementarschule und später in der Münsterschule nur das Notwendigste lernt, am besten wohl noch Lesen. Das Schreiben fällt ihm zeitlebens schwer; »ich schreibe lieber 10 000 Noten als einen Buchstaben«, heißt es in einem seiner Briefe. Und im Rechnen scheitert er, der später in vielen Meisterwerken eine Unzahl verschiedener Stimmen nach hochkomplizierten Regeln ganz neuartig koordiniert, an der einfachsten Multiplikation. Cäcilia Fischer will den Kleinen auf einem Bänkchen am Klavier stehen gesehen haben, Tränen in den Augen. War der Vater ungeduldig, war er streng oder gar gewalttätig? Immerhin erkannte er, dass die Begabung seines Sohnes bedeutender war, als die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Er zog Musikerkollegen wie den Hofsänger Tobias Pfeiffer hinzu. »Oft, wenn Pfeiffer mit Vater Beethoven spät aus dem Weinhause kam«, heißt es, »wurde der Knabe aus dem Bett geholt und bis zum Morgen am Clavier festgehalten, ein Verfahren, welches für seine Fortschritte in der Schule nicht eben vorteilhaft war.« Wirkliche Fortschritte macht der kleine Ludwig, als der Organist, Komponist und Dirigent Christian Gottlob Neefe ins Bonner Hoforchester eintritt und sein Lehrer wird. Neefe, 1748 in Chemnitz geboren, hat als Musikstudent die »Leipziger Schule« durchlaufen; er macht seinen Schüler mit der damals selbst bei Berufsmusikern in Vergessenheit geratenen Musik Johann Sebastian Bachs (1685–1750) und seines, zu der Zeit berühmteren und eine damals aufregend moderne Musik komponierenden Sohnes Carl Philipp Emanuel (1714–1788) bekannt. Die Begabung des gerade ins Teenie-Alter hineinwachsenden Musikerkinds Beethoven erscheint Neefe so vielversprechend, dass er ihn in einer seiner Korrespondenzen in Cramer’s Magazin vorstellt. Mozart (1756–1791), den er dabei als Maß aller Dinge erwähnt, hat im fernen Wien 1782 gerade seine Entführung aus dem Serail herausgebracht:

      Ludwig van Beethoven […] ein Knabe von elf Jahren und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Klavier, liest gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtenteils das wohltemperierte Klavier von Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das Nonplusultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeutet. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrigen Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbass gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition. […] Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.

      Seltsam die Altersangabe. Die Notiz erscheint im März 1783, da ist Beethoven dreizehn und nicht elf. Er hat sich, bis heute rätselhaft, noch spät im Leben und sogar gegen den Nachweis des ihm vorgelegten Taufschein-Originals zwei Jahre jünger gemacht. Aber selbst mit dreizehn ist er für die damalige Zeit ein ungewöhnlich junger Hofmusiker. Ab 1784 arbeitet er als Neefes Assistent an der Orgel und wird dafür mit 150 Gulden entlohnt. Er ist als Bratscher Teil der Hofkapelle. Wenn Neefe den Kapellmeister Lucchesi vertritt, ersetzt ihn Beethoven am Cembalo auch als musikalischer Leiter des Hoftheaters und legt durch permanentes Spiel aus der Partitur die Grundlage für seine später allseits bewunderte Fähigkeit, die schwierigsten Werke vom Blatt zu spielen.

      Er ist sechzehn, da schickt man ihn, vielleicht Neefes Anregung folgend, zur Ausbildung bei Mozart nach Wien. Ob er dem in seiner Wohnung in der Großen Schulerstraße hinterm Stephansdom gerade den Don Giovanni vorbereitenden Maestro tatsächlich begegnet, ist unklar. Seinen Wienbesuch muss er schon nach zwei Wochen abbrechen, die Mutter in Bonn liegt mit Schwindsucht im Sterben. Ihr Tod wirft den offenbar ohnehin nicht sehr willensstarken Vater, der nun auch noch sein Instrument, die Stimme, zu verlieren beginnt, mehr und mehr aus der Bahn. Der Sohn, keine achtzehn Jahre alt, übernimmt als Oberhaupt und Ernährer die Verantwortung für die mutterlose Familie. Der Kurfürst, das ist seit 1784 der Habsburger Maximilian Franz, entspricht schließlich Ludwigs Bitte, seinem Vater nur noch die Hälfte des Gehalts auszuzahlen, die andere Hälfte dem künftig für seine beiden Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann und den Vater verantwortlichen Sohn.

      Komm ins Offene, Freund!

      Die kleine Residenzstadt Bonn hat zu Beethovens Zeit etwa 9600 Einwohner. Sie ist einer der unzähligen kleinen Landesflicken im großen Teppich dessen, was seit dem Spätmittelalter »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« heißt. Beethoven hat als Kind und Heranwachsender die Agonie der letzten Tage dieses Gebildes miterlebt.

      Er wird in die Endzeit dessen hineingeboren, was wir »Barock« nennen. Die drei »Kurfürstensonaten« des Dreizehnjährigen sind angeregt von der Klaviermusik des in London lebenden Bachsohns Johann Christian, von der Mannheimer Schule und Wolfgang Mozart, sie lösen sich alle auf je eigene Art in dieser Zeit aus dem vorherrschenden Regelwerk. Beethoven widmet die Sonaten dem Kurfürsten Maximilian Friedrich (1708–1784), einem Barockherrscher, der sich den in Europa immer stärker verbreitenden Gedanken der Aufklärung öffnet. Er richtet in Bonn eine »Armenkommission« ein, sorgt für ein »Medizinalkollegium«, ein botanischer Garten wird eröffnet, die Schlossbibliothek bekommt ein öffentliches Lesezimmer, das Hoftheater steht den Gebildeten für einige Zeit kostenlos offen. Finanziell ermöglicht werden diese Maßnahmen nicht zuletzt durch die mit Auflösung des Jesuitenordens 1773 frei werdenden Mittel. In bewusster Abgrenzung zur fundamentalistisch-katholischen Kölner Universität sorgt der Premierminister des Kurfürstentums, Caspar Anton von Belderbusch, 1777 für eine Bonner Akademie. Maximilian Franz, der Nachfolger Max Friedrichs macht sie 1786 zur Universität. Beethoven besucht Vorlesungen wie die des Literaturprofessors Eulogius Schneider. In dessen Gedichten, 1790 gedruckt, Beethoven ist einer der Subskribenten, finden sich Verse, radikal wie der Epochenbruch, den der Sturm der Bevölkerung auf die Bastille, das Pariser Stadtgefängnis, am 14. Juli 1789 auslöst.

      Gefallen ist des Despotismus Kette,

      Beglücktes Volk von deiner Hand!

      Der Fürsten Thron wird dir zur Freiheitsstätte,

      das Königreich zum Vaterland.

      »Vaterland«, das ist für den jungen Beethoven und die wachsende Zahl seiner Bonner Freunde und Kollegen angesichts des dahinsiechenden, ethnisch und geografisch zerstückelten und nie zum Staat gewordenen »deutsch-römischen«


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