Schwarzbuch Alpen. Matthias Schickhofer

Schwarzbuch Alpen - Matthias Schickhofer


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neue Phänomen bot auch wirtschaftliche Chancen: Quartiergeber, Gastronomen, Bergführer, Transporteure usw. konnten damit Geld verdienen; die Tourismusindustrie entstand. Die Alpen wurden zur Projektionsfläche für das Geschäft mit der (Wochenend- und Ferien-)Massenflucht aus dem naturfernen, ungesunden, städtischen Alltag. Dabei geht das Substrat der Sehnsucht – die unversehrte Landschaft – zusehends verloren. Die heile Alpenwelt wird gerade dort, wo sie besonders wirkungsvoll ihre Anziehungskraft entfaltet, Opfer derselben.

      Im späten 19. Jahrhundert entstand der Begriff der Heimatliteratur. Diese Gegenbewegung zum Naturalismus stellte der um sich greifenden Modernisierung eine heile Welt des ländlichen Raums, der Natur und der Berge mit traditionellen, moralischen Menschen gegenüber. Besonders erfolgreich war Ludwig Ganghofer, dessen Bücher Millionenauflagen erzielten, und die fortan als Modelle für unzählige, mehr oder weniger kitschige Nachahmungen dienten.

      Ganghofers narrative Elemente fanden auch Eingang in „Heimatfilme“, die ab 1910 produziert wurden. Die Filme von Arnold Franck („Die weiße Hölle vom Piz Palü“, 1929) lieferten wichtige Impulse. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Heimat-Sujets in der Blut-und-Boden-Literatur und in zahlreichen Filmen ideologisch missbraucht. Die Nationalsozialisten förderten die Naturverklärung in ihrer kulturpolitischen Propaganda. Allen voran der Südtiroler Luis Trenker wurde berühmt dafür, Heimat und erhabene Bergwelt als idealisierte Projektionsfläche mit der Dekadenz des Stadtlebens zu kontrastieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in Deutschland eine Welle an meist recht schlicht gestrickten Heimatfilmen auf, die den noch mit den Folgeschäden des Krieges kämpfenden Menschen ein wohliges, stereotypes Bild von vertrauter Heimat präsentierten.

      Im Alpinismus entwickelte sich zwischen den beiden Weltkriegen ein „heroisches“ Zeitalter. In den italienischen Dolomiten wurden sehr schwierige Erstbegehungen im VI. Grad frei geklettert. Herausragend war die Besteigung der bis dahin als unbegehbar eingestuften überhängenden Nordwand der Großen Zinne im Jahr 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Trend zur technischen Erschließung vieler Alpenwände (mit viel Eisen versicherte Routen), der in den späten Sechzigerjahren durch ein Revival des Freikletterns abgelöst wurde. Reinhold Messner und sein Bruder Günther knüpften an die Tradition der Dreißigerjahre an und eröffneten neue Schwierigkeitsgrade, etwa am Heiligkreuzkofel in den Dolomiten (1968).

       VERKEHRSERSCHLIESSUNG UND TOURISMUS

      Die Alpen verhindern zweifellos „die freie Sicht aufs Mittelmeer“: Sie sind eine gewaltige Barriere im europäischen Zentrum. Die einsetzende Moderne machte sich daran, diese verkehrstechnisch zu überwinden. Auch die „Reliefenergie“ der Alpen – zur Energieerzeugung – kam ins Blickfeld. Ende des 19. Jahrhunderts begann man in Frankreich und der Schweiz mit der industriellen Erschließung der Alpen für die Energiegewinnung.

      Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Bau von alpinen Eisenbahnen ein. 1854 wurde die Semmeringbahn eröffnet, die erste gebirgsquerende Bahn der Welt. 1871 ging die erste Bergbahn Europas in Betrieb: auf die Rigi über dem Vier-waldstättersee. Ein paar Jahre später erreichte das Schienennetz den gegenüberliegenden Pilatus – bis heute die steilste Bahnstrecke der Welt. Mit den Bahnen kamen die Touristen, um 1900 entstanden in der Schweiz etliche Grandhotels. 1898 erreichte die Gornergrat-Bahn bei Zermatt eine Höhe von 3089 Metern. Noch höher hinauf schaffte es 1912 die Jungfraubahn mit in Europa unerreichten 3454 Metern. 1908 startete bei Grindelwald die erste Bergschwebebahn auf das Wetterhorn. Die hing noch an vier Seilen, heute schweben Seilbahnen an nur einem.

      Ab den 1950er-Jahren waren die Berge selber dran: Technische Aufstiegshilfen machten steile Wände auch für Unerfahrene begehbar und der alpine Skitourismus kam auf Touren. Pisten wurden angelegt, Skilifte und Seilbahnen errichtet. Die Zahl der Skifahrer stieg rasant.

      In den späten 1950er-Jahren kamen die Alpen als Hindernis für den Straßenverkehr ins Visier. Die Brennerautobahn, eine der ersten Gebirgs-Schnellfahrstrecken der Welt, wurde in den 1960er-Jahren mit gigantischem Aufwand in Beton gegossen bzw. (in Italien) durch den Fels gebohrt. Ab 1971 strömte der Verkehr. Fast zehn Jahre später, 1980, öffnete auch die Schweiz mit dem Gotthard-Straßentunnel die Schleuse für Laster und Autos.

      Der Fremdenverkehr spielte auch eine Rolle für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. 1948 entstand die Idee, den Tourismus durch niedrig verzinste ERP-Kredite zu unterstützen.4 Die französische Nachkriegspolitik wollte ganz Frankreich nach Savoyen in die Skiferien lotsen. Dafür musste Skifahren leistbar sein, also errichtete der Staat große Gebäudekomplexe mit vielen kleinen, billigen Wohnungen. Die ähnelten nicht zufällig den Vorortsiedlungen: Sie wurden von den gleichen Architekten geplant. In Savoyen steht heute der größte Skizirkus der Welt, Trois Vallées, mit 600 Kilometern Piste und 144 Liften. Der Drang zum „Größten“, „Höchsten“, „Schnellsten“ im Skitourismus ist ungebrochen. Ein Strudel aus Investition und Verschuldung ist entstanden – und dreht sich immer weiter. „Man ist in einer Wachstumslogik gefangen“, erklärt Verena Winiwarter, Umwelthistorikerin am Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt.5

      Mit 460 Millionen Nächtigungen pro Jahr sind die Alpen heute eine der beliebtesten Urlaubs-Destinationen weltweit. Noch in den frühen 1990er-Jahren überwog der Sommer-Tourismus, dann wurde der Winter das Zugpferd für die Branche. Doch hier stößt man zusehends an Grenzen, nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels. Also wird verzweifelt nach Alternativen gesucht. Aber was tun mit den hässlichen Wintersport-Arealen? Wer will da noch bergwandern? Fieberhaft werden alternative Nutzungen für die vielen Seilbahnen in der zunehmend schneefreien Zeit ersonnen. Der Adrenalin-Faktor ist wichtig, meinen Marketing-Fachleute. Also kommen Downhill-Mountainbiking, Paragliding, Sommerrodelbahnen, Skywalks, Seilbrücken oder Seil-Gleitfluganlagen auf die Angebotspalette.

       DIE ALPEN ALS SPASSKULISSE

      Eines haben all diese „Angebote“ gemeinsam: Die Alpen werden zum Sportgerät und zur Spaßkulisse degradiert. Wichtig ist vor allem, dass ausreichend Geld an den verschiedenen Kassen und Chipkarten-Lesegeräten in der verbauten Landschaft hängen bleibt. Und die Anlagen müssen massentauglich sein.

      Die Beliebtheit der alpinen Spaß- und Sporteinrichtungen ist eine der Ursachen für die wachsende Not der alpinen Ökosysteme. Das betrifft nicht nur das Skifahren, sondern auch andere Trendsportarten im sogenannten Outdoor-Be-reich. Die Alpen sind in dieser Hinsicht weltweit einzigartig: Keine andere Bergregion wird von erlebnishungrigen Menschen so beansprucht wie die Gipfel und Täler zwischen Nizza und Wien.

      Früher waren vor allem Bergwandern und Bergsteigen angesagt. Die extremeren Auslegungen des Alpenerlebnisses waren einer überschaubaren Gruppe von Könnern vorbehalten. Das Streben nach Nervenkitzel und Angstlust treibt Touristiker und ihre Kundschaft immer weiter in bisher kaum berührte Naturlandschaften. Dort erhofft man sich intensive Körper- und Landschaftserlebnisse durch Canyoning, Mountainbiking, Paragliding, Rafting, Caving, Freeriding oder Klettern. Bisher kaum gestörte Orte wie Felswände, Schluchten oder Höhlen kommen mehr und mehr unter Druck.

      Ein Beispiel dafür ist die „Area 47“, eine Erlebniswelt am Eingang zum Tiroler Ötztal. Der alpine Vergnügungspark macht in seinen Werbetexten klar, um was und wen es geht: „Wildwasser und Stromschnellen, steiler Fels, tiefe Gumpen und Berghöhlen ziehen dich magisch an? Mit den erfahrenen Guides der AREA 47 eroberst du das nasse Element im Raftingboot. Spürst das Herzklopfen im Hals, bevor du in der Schlucht nach unten springst. (…) Geh an deine Grenzen, mit der geeigneten Tour für Einsteiger, Familien und eingefleischte Bergabenteurer.“

      Die Area 47 bietet einen 20.000 Quadratmeter großen Wasserpark. Zahlende Gäste können „Wakeboarden“ oder sich beim Blobbing oder auf der Wasserschanze austoben. Rafting auf dem Inn, Canyoning, ein Hochseilgarten oder Höhlentouren sorgen für die Steigerung des Nervenkitzels – mit Sicherheitsnetz. Fachleute haben dafür einen neuen Anglizismus erfunden: das „Thrilling“, die Lust an der Angst. Ein Urlaub muss heute mehr bieten als nur ein Urlaubsziel oder eine Sportart. Also werden bekannte Angebote „neu verpackt“ und frisch inszeniert.

      Die Gebirgslandschaft allein


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