Die Wut wächst. Oskar Lafontaine

Die Wut wächst - Oskar Lafontaine


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in der SPD hielten sie vor, diese hätten nur noch ein einziges Projekt: sich selbst. Ich hätte mich nicht getraut, so etwas zu schreiben, weiß ich doch um die Egomanie und Selbstverliebtheit der Vorgängergenerationen. Dabei denke ich nicht nur an die eigene, der man fälschlicherweise den Ehrentitel Toskanafraktion verlieh. Wenn ich heute die von der Verantwortung zerfurchten Gesichter sehe, dann fällt mir vieles ein, aber nicht die sanfte Hügellandschaft zwischen Florenz und Pisa.

      Bei der Beobachtung unserer Altvorderen lernte ich: Der Lackmustest auf die Glaubwürdigkeit eines linken Politikers ist der Umgang mit seiner Familie, seinen Freunden und mit den ihm anvertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wer Solidarität predigt, die Gleichberechtigung der Frau in Beruf und Gesellschaft fordert, die eigenen Kinder aber nicht kennt und der Frau die Erziehung allein überlässt, ist unglaubwürdig. Wer Freundschaften nur pflegt, solange sie der eigenen Karriere nützen, ist bindungslos und einsam. Und wer das Personal von oben herab behandelt, hat in einer linken Partei nichts verloren.

      Aber zurück zur Diskussion des sozialdemokratischen Nachwuchses. Die Beobachtung, dass sich gesellschaftlich einiges verändert hat und dass diese Veränderungen vor den Parteien nicht Halt gemacht haben, ist richtig. Nicht umsonst ist in den letzten Jahren von der »Ich-AG« die Rede. Der Spiegel konnte einen Titel mit Boris Becker gut verkaufen, auf dem ein einziges Wort stand: »Ich«. Das sind schlechte Zeiten für die Solidarität. Aber wie viel Zugeständnisse an den Zeitgeist und die herrschenden Eliten sind erlaubt? Wes Brot ich ess, des Lied ich sing, heißt es in einem Sprichwort.Damit nicht nur das Lied der Reichen gesungen wird, tritt die Linke für soziale Grundrechte ein. Soziale Sicherheit ist die Bedingung eines freien Lebens. Der im Zeitalter des Neoliberalismus geschmähte Sozialstaat ist die Voraussetzung einer wirklich demokratischen Gesellschaft. Er hilft, unwürdige Abhängigkeiten abzubauen. Ein Arbeitnehmer, der Kündigungsschutz und Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, muss im Betrieb nicht kuschen und den Vorgesetzen nach dem Mund reden.

      Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt, lesen wir in der Bibel. Wer ist der Gott unserer Zeit und welche Wörter bietet er uns zur geistigen Nahrung an? Die Sprache formt die Gedanken, weil wir in vorgegebenen, uns vertrauten Begriffen zu denken gelernt haben. »Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt«, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Immer neue Wörter entstehen und prägen das Denken auch in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Wenn die Linke nicht wachsam ist, hat sie schon verloren, einzig weil sie in der Sprache der Herrschenden denkt. Das ist eine entscheidende, bisher zu wenig beachtete Ursache für das Versagen der Linken in der Politik. Die tägliche Gehirnwäsche wird gar nicht bemerkt. Greifen wir mitten hinein. »Lohnzurückhaltung«, das Unwort der verteilungspolitischen Auseinandersetzung der letzten Jahre, ist keine Wortschöpfung der Arbeitnehmer. Der Begriff ist heute in aller Munde und wird in vielen tausend Wirtschaftskommentaren heruntergebetet. Warum gibt es das Wort »Gewinnzurückhaltung« nicht? Wenn sie einen Arbeitnehmer auf die Straße setzen, dann sprechen sie von »Freisetzung«. Ich habe oft vernommen, wie Gewerkschaftsfunktionäre dieses Wort gedankenlos nachplappern. Es klingt dann so, als entließe man den betroffenen Arbeitnehmer in die Freiheit. Deregulierung und Flexibilisierung? Es hieß doch immer, der Mensch braucht Regeln und einen festen Grund, um sein Leben zu gestalten.Wenn die Begriffe in der deutschen Sprache zu eindeutig sind, flüchtet man in Fremdwörter. Deregulierung und Flexibilisierung hört sich besser an, als keine Gesetze und keine geregelten Arbeitszeiten. »Du Protektionist« ist für die Neoliberalen aller Länder ein Schimpfwort. Die deutsche Übersetzung, du willst Schutzrechte für Menschen und Kulturen, klingt nicht wie ein Vorwurf, sondern wie ein Kompliment. Noch ausgeprägter ist das Unterfangen, die militärischen Intentionen mit Hilfe von Fremdwörtern zu verschleiern: »Intervention«, »Militäraktion« oder »Schlag gegen Serbien und den Irak« hört sich humaner an als »wir bringen Serben und Iraker um.« Der Mensch muss aus der Sprache des Militärs verschwinden. Unschuldige Kinder, Frauen und Männer, die Opfer der Bomben werden, nennt die Kriegspropaganda »Kollateralschäden«. Die Wörter dienen oft nicht nur zur Verschleierung der Gedanken, sondern zur Verzerrung der Wirklichkeit. Für die politischen Fehlentwicklungen der letzten Jahre war es entscheidend, dass die Linke sich ihren Reformbegriff klauen ließ. Unter Reform verstand man lange Jahre die Besserstellung des Volkes. Heute heißt Reform Abbau des Sozialstaates, Beseitigung von Arbeitnehmerrechten und Umverteilung von unten nach oben. Rentenreform, Steuerreform, Arbeitsmarktreform und Gesundheitsreform – das klingt so verführerisch, aber mittlerweile wissen die Menschen, dass sie bei solchen Ankündigungen den Geldbeutel zuhalten müssen.

      Neben dem zentralen Anliegen der sozialen Gerechtigkeit ging es der Linken immer um die Demokratisierung der Macht und die Veränderung von Herrschaftsstrukturen.Als sie noch echten Kaisern und Königen gegenübertrat, brauchte das nicht erläutert zu werden. Aber längst gibt es neue Kaiser. Sie beherrschen die großen Finanzhäuser und multinationalen Konzerne, die in der Welt eine wichtigere Rolle spielen als viele Staaten. Vor diesen neuen Kaisern, die oft nackt sind und ohne Kleider dastehen, verharren die Mächtigen der Politik in unterwürfiger Demut.Manchmal stehen sie auch auf ihrer Spendenliste oder auf ihrer Gehaltsliste.Die Demokratisierung der Unternehmen und die Schutzrechte der Arbeitnehmer bleiben zentrale Anliegen der Linken, auch wenn der Zeitgeist dem entgegensteht. Mitbestimmung, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung drücken nach Meinung der neoliberalen Glaubensgemeinde den Aktienkurs und halten angelsächsische Unternehmer davon ab, in Deutschland zu investieren.

      Aber wo ist die Linke? Das werde ich oft mit aggressivem Unterton gefragt. Eine Antwort lautet: Am Beginn des Jahres 2002 versammelte sich die Rechte auf dem World Economic Forum in New York, während die Linke im brasilianischen Porto Alegre tagte. 3000 Führungskräfte aus aller Welt kamen in New York zusammen. Bis zu 25 000 Dollar Teilnahmegebühr wurden bezahlt. Das Motto der Tagung hieß: »Führungsstärke in ungewissen Zeiten«. Aber was wussten die dort Versammelten – verglichen mit den Kriegs- und Armutsflüchtlingen der Welt – von ungewissen Zeiten? In Porto Alegre sah man nicht die Reichen und Mächtigen, sondern Globalisierungskritiker, Gewerkschafter und Kirchenvertreter, kurz, Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit in der Welt engagieren. Ihr Motto hieß: »Eine andere Welt ist möglich.« Ihr Programm ist überzeugend. Sie fordern die Entschuldung der armen Länder, das Austrocknen der Steueroasen, die Bekämpfung der Steuerflucht, eine neue Weltfinanzarchitektur mit stabilen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen, die Demokratisierung der internationalen Organisationen, den Abbau der Agrarsubventionen, die Änderungen der Spielregeln des Welthandels, die Steigerung der Entwicklungshilfe und die Einführung einer Tobin-Steuer. Das sozialdemokratische Zeitalter kann nicht zu Ende gehen, weil die soziale Gerechtigkeit immer wieder durchgesetzt werden muss. Der Unterschied zu früher: Heute haben politische Antworten globale Dimensionen und können nur durch internationale Zusammenarbeit Wirklichkeit werden.

      Wer der Linken das Totenglöckchen läutet, hat die Signale von Seattle bis Genua nicht verstanden. Auf den Verlust politischer Gestaltungsmöglichkeiten im nationalen Rahmen antwortet die Linke mit Vorschlägen zur politischen Steuerung auf übernationaler Ebene. Die Massenarbeitslosigkeit kann mit einer nationalstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik allein nicht mehr erfolgreich bekämpft werden. Der notwendige soziale und ökologische Umbau setzt internationale Reformen voraus. Die Vorschläge der Globalisierungskritiker liegen auf dem Tisch.Zur Realität können sie aber nur werden, wenn Europa zu einer gemeinsamen Politik findet, und wenn die einzige Führungsmacht der Welt, die Vereinigten Staaten, bereit ist, ihren Unilateralismus und ihren Anspruch auf Weltherrschaft aufzugeben. Die kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Politik nach den Terroranschlägen in New York und Washington ist notwendig, um Konzepte und Handlungsoptionen für eine gerechtere Welt auszuloten.

      In den Anschlägen vom 11.September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sah ich anfangs ein Ereignis, das die Welt verändern würde. Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war, lautete das allgemeine Urteil und ich stimmte dieser Einschätzung zu. Vielleicht kam darin auch die Angst vor weiteren Terroranschlägen zum Ausdruck. Sie konnten jeden treffen. Als die ersten Anthraxbakterien in der amerikanischen Post entdeckt wurden, öffnete ich meine Briefe etwas vorsichtiger. Man kann ja nie wissen. Aber im Lauf der Zeit kamen mir Zweifel, ob die Ereignisse in Amerika wirklich einen welthistorischen Einschnitt bedeuteten. Hatte sich tatsächlich etwas Neues ereignet, und was war das


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