Eine Schale Getreide verändert die Welt. Magnus MacFarlane-Barrow

Eine Schale Getreide verändert die Welt - Magnus MacFarlane-Barrow


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Sachen zügig aus und tranken mit zwei jungen Ärzten rasch eine Tasse Kaffee. Sie schlugen vor, die Stadt zu verlassen, bevor wieder Granaten geworfen würden; wir sollten ihnen hinterherfahren zu einem ungefährlicheren Ort, dort könnten wir reden. In der Nähe von Medjugorje, wo wir übernachten wollten, hielten sie vor einem Motel, das von Gewehrschüssen und Granaten beschädigt war.

      Beim Kaffee erklärten uns die Ärzte, wegen des ausgedehnten Schadens an ihrem Krankenhaus könne man nur noch das Erdgeschoss benutzen. Das Gebäude war mittlerweile grotesk überfüllt, und es fehlten selbst die grundlegendsten medizinischen Geräte. Besonders erfreut waren die beiden über die Fixateurs externes, die wir mitgebracht hatten – so viele Patienten kamen mit zerschmetterten Gliedmaßen, und sie baten uns dringend, noch mehr von diesen Haltesystemen zum Ruhigstellen von Gliedmaßen zu bringen. Wir erklärten ihnen, dass Julie mit mir gekommen war, weil sie, eine ausgebildete Krankenschwester, ihre Stelle in Schottland kündigen und hier als Freiwillige arbeiten wollte. Sie antworteten, Krankenschwestern hätten sie genug, aber eben nicht genug medizinische Apparaturen. Sie schlugen vor, Julie solle mich doch bei meinen Bemühungen unterstützen, in Schottland die benötigten Hilfsmittel aufzutreiben, denn mittlerweile hatten sie gemerkt, dass ich nicht nur kein sonderlich begabter LKW-Fahrer war, sondern auch keine Ahnung von medizinischen Instrumenten hatte. Es wäre also dringend nötig, eine Person hinzuzuziehen, die etwas von der Sache verstand, wenn ich für sie von irgendwelchem Nutzen sein wollte. Ich war überrascht, wie erfreulich die Perspektive für mich klang, mit Julie zusammenzuarbeiten, murmelte aber nur, wir könnten ja mal drüber nachdenken. Julie äußerte sich ganz ähnlich, woraufhin ich beschloss, mir lieber keine Hoffnungen zu machen. Dann ging das Gespräch, wie nicht anders zu erwarten, von medizinischen Fragen zur Kriegssituation über.

      Die Ärzte berichteten, dass die „Tschetniks“ in den Bergen mittlerweile nicht nur das Krankenhaus beschossen, sondern auch die Krankenwagen. Mehrere Ambulanzen, die mit Patienten zum Krankenhaus unterwegs waren, waren zerstört worden. Mittlerweile hatten unsere Gesprächspartner ihren türkischen Kaffee gegen Sliwowitz eingetauscht (einen regionaltypischen Pflaumenschnaps), und jetzt fingen sie an zu erzählen, wie sie zum Krieg standen. Sie waren voller Hass gegen ihre Feinde, die „Tschetniks“, und die Unterhaltung wurde nun ziemlich beklemmend. Die beiden Ärzte, die uns stundenlang erklärt hatten, was sie brauchten, um schwer verletzte Menschen zu heilen, fingen jetzt an, detailliert zu beschreiben, was sie einem Tschetnik-Soldaten antäten, wenn er ihnen in die Hände fiele. Mit Listen von dringend benötigten medizinischen Geräten verabschiedeten wir uns und versprachen, so bald wie möglich mit weiteren Hilfsgütern zurückzukommen.

      Das war der fünfte Trip, den ich innerhalb kurzer Zeit nach Bosnien-Herzegowina unternommen hatte. Bei den Touren davor war ich immer von einem anderen Familienmitglied oder Freund begleitet worden. Jede Tour hatte für einen 25-jährigen Fischzüchter, der nie zuvor in seinem Leben daran gedacht hatte, Fernfahrer zu werden, eine steile Lernkurve bedeutet. Ich entdeckte eine ganze von Fernfahrern bewohnte Welt mit einer ganz eigenen Kultur, die mir nicht immer freundlich entgegenkam und auch nicht immer leicht zu verstehen war. Schon die Sprache war ein Problem. Es gab neue Ausdrücke zu lernen, beispielsweise „Tachograf“ (Fahrtenschreiber, also das Gerät, das die Fahrstunden und die Geschwindigkeit des Fahrers aufzeichnet), oder „Spedition“ (die Leute, die die nötigen Zollpapiere vorbereiten).

      Erschwert wurde das Ganze durch den Umstand, dass wir nur Englisch sprachen – und das auch noch mit schottischem Akzent. Eine meiner ersten Touren unternahm ich mit Robert Cassidy, einem guten Freund aus Glasgow, dessen Akzent noch heftiger war als mein eigener Argyll-Zungenschlag. Wir fuhren einen 7,5-Tonner voller gespendeter Kartoffeln nach Zagreb. Es war mitten im Winter und bitter kalt. Wir schliefen hinten im Truck zwischen den Paletten voller Kartoffeln, und eines Morgens wurden wir in der Nähe der österreichisch-slowenischen Grenze wach und mussten feststellen, dass das Wasser in unseren großen Trinkflaschen komplett gefroren war. Ein Thermometer an der Tankstelle zeigte uns an, dass es sechs Grad unter null hatte.

      Einer der neuen Spezialausdrücke, die wir uns aneignen mussten, war „Plomb“ (Plombe). Damit wird das kleine Bleisiegel bezeichnet, das die Zollbeamten beim Grenzübergang hinten an den LKWs anbringen; man kann so, wenn man das Land wieder verlässt, nachweisen, dass man durchgefahren ist, ohne den Anhänger geöffnet und Waren zu- oder abgeladen zu haben. Damals wussten wir allerdings noch nicht, was dieser Ausdruck bedeutet, weshalb ein Zollbeamter uns mit zunehmender Irritation wieder und wieder durch die Fensteröffnung seines Kabäuschens das Wort zubellte. „Plomb?“ – Er wollte einfach wissen, ob unser Fahrzeug versiegelt war. Nachdem Robert auf diese Frage mehrmals nur mit einem Blick blanksten Unverständnisses reagiert hatte, antwortete er schließlich in seinem schönsten Glasgow-Akzent: „Nae plums, just tatties. Loads of tatties.“ (Keine Pflaumen, nur Kartoffeln. Haufenweise Kartoffeln.) Worauf nun natürlich der Zollbeamte mit befremdet-amüsiertem Blick reagierte. Er wusste nicht einmal, in welcher Sprache er uns antworten sollte.

      Damals waren einige Brücken an der großen Fernstraße entlang der Adria, über die wir die Straße nach Zentral-Bosnien-Herzegowina hinein erreichten, von Granaten zerstört. Man musste daher, wenn man diese Route benutzte, mit einer kleinen Fähre nach Pag übersetzen (einer langgestreckten schmalen Insel, die sich parallel zur Küste erstreckt), die ganze Insel entlangfahren und dann weiter im Süden die Fähre zurück aufs Festland nehmen. Einmal standen mein Schwager und damaliger Beifahrer Ken und ich in einer Schlange mit Hunderten von LKWs, die auf die kleine Aushilfsfähre warteten – auf einer Straße, die garantiert nicht für große, schwere Fahrzeuge gebaut worden war. Da brach plötzlich ein fürchterlicher Sturm los. Die Fähren stellten ihren Betrieb ein, und wie alle Fahrer um uns herum waren wir jetzt in unserer Fahrerkabine gefangen. Draußen heulte ein eisiger Wind um unseren Truck – er rüttelte das Fahrzeug so heftig hin und her, dass wir dachten, wir würden gleich umkippen. Auf der engen Straße war an Wenden nicht zu denken. Uns blieb also nichts anderes übrig als zu warten, bis der Sturm sich legte. Wir hatten in unserer Kabine an Proviant lediglich eine große Schachtel Schokoladenriegel der Marke Twix, die wir in den nächsten 48 Stunden penibel einteilten. Hin und wieder, dem Ruf der Natur folgend, kämpften wir mit der Tür, um hinauszuklettern; draußen rutschte man dann auf einem zugefrorenen Fernfahrerurinstrom aus, der sich vom Gipfel des Bergs zu dem kleinen Landungssteg am Ende der kurvigen Straße zog. Damals nahm ich mir vor, in Zukunft abwechslungsreicheren, gesünderen Proviant für Notfälle einzupacken – oder zumindest eine größere Auswahl an Schokoladenriegeln.

      Auf diesen ersten Touren begriff ich auch allmählich, dass die Hilfsgüter, die wir transportierten, nicht immer das Wichtigste waren, was wir notleidenden Menschen bringen konnten. Mein Vater und ich lieferten einmal Hilfsmittel an eine kleine Einrichtung für behinderte Kinder in der Nähe des Hafens von Zadar. Damals unternahmen die serbischen Streitkräfte einen Angriff auf diesen Teil der kroatischen Küste, und wir konnten das Grollen der Granaten in der Ferne hören, als wir vor dem schäbigen kleinen Gebäude ankamen. Wir trafen auf Reihen von Kindern, die in Gitterbettchen lagen, zerlumpte Pyjamas trugen und von einer Belegschaft versorgt wurden, die sich nun in höchstem Alarmzustand befand. Sie waren nicht nur deshalb gestresst, weil sie nicht einmal mehr das Notwendigste hatten, um die Kinder angemessen versorgen zu können, sondern auch, weil der Krieg immer näher kam und sie genau wussten, dass es unmöglich war, mit diesen Kindern sofort und schnell aufzubrechen. Als wir unsere Kisten voller Hilfsmittel hinten aus unserem Truck ausgeladen hatten, verschwand die Freude der Schwestern schnell, als eine Granate nun sehr viel näher am Dorf detonierte. Und gleich danach noch eine. Sie forderten uns mit allem Nachdruck auf, uns mit dem Ausladen möglichst zu beeilen und gleich wieder in Richtung Norden zurückzufahren. Sobald ich die letzte Kiste ausgeladen hatte, verabschiedete ich mich hastig, sprang auf den Fahrersitz und ließ den Motor an, bereit, jeden Moment abzufahren. Ein paar Sekunden verstrichen, und in mir stieg Ärger hoch, weil mein Dad noch auf sich warten ließ. Als ich in den Rückspiegel schaute, sah ich, dass er die am ärgsten verängstigte Krankenschwester umarmte: Er tröstete sie und versprach, für sie zu beten. Dann erst nahm er seinen Sitz ein, und wir brausten davon.

      Dreißig Jahre später sprach Papst Franziskus von der „Sünde der Effizienz“, und ich musste sofort an diesen Zwischenfall denken. Der Papst erinnerte uns, die wir mit Menschen arbeiten, die in Armut leben, daran, dass es bei wahrer Nächstenliebe nicht nur um


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