Eine Schale Getreide verändert die Welt. Magnus MacFarlane-Barrow

Eine Schale Getreide verändert die Welt - Magnus MacFarlane-Barrow


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Schwestern zu erkennen. Aber irgendwie glaube ich heute immer noch nicht, dass es wirklich nötig war, dass Dads Umarmung dermaßen lang dauerte!

      Bei all unseren Touren quer durch Europa machten wir die gleiche Erfahrung: Wenn wir uns unserem üblichen Zielort – Medjugorje – näherten, sahen wir alle möglichen anderen Fahrzeuge, die alle zu diesem weltbekannten Pilgerort unterwegs waren. Kleine Konvois von Lastwagen wie dem unseren, einzelne Transporter oder Familienautos mit Anhängern, in denen Kleidung, Nahrung und Medizin untergebracht war – alle strömten sie in das kleine Dorf in den Bergen von Bosnien-Herzegowina. Wimpel, Aufkleber auf den Autos oder selbstgemachte Schilder kündeten von ihrer Mission und ihrer Heimat und gaben Hinweise auf ihren Zielort. Wir freuten uns natürlich über die Gelegenheit, nach Medjugorje zurückzukehren; immerhin hatte sich dort vor vielen Jahren unser Leben radikal verändert. Doch fragten wir uns mittlerweile auch, ob wir unsere Hilfe nicht zu anderen Orten bringen sollten, die nicht so im Zentrum der Aufmerksamkeit standen – in Regionen, die weniger Hilfe bekamen, wo aber noch größere Flüchtlingsmassen Not litten.

      Einer dieser Orte war Zagreb, die Hauptstadt Kroatiens, wo Tausende verzweifelter Menschen aus Gebieten eintrafen, die von den Serben „ethnisch gesäubert“ worden waren. Damals war fast ein Drittel des seit Kurzem unabhängigen Kroatien unter serbischer Kontrolle, und entlang der Frontlinien tobte der erbitterte Krieg eines Volks, das verzweifelt um seine Existenz kämpfte. Flüchtlinge und Vertriebene, Kroaten und Muslime sowohl aus Kroatien als auch aus Bosnien-Herzegowina, strömten in die Stadt. Sie hatten alles verloren – ihre Häuser, ihre Besitztümer, häufig auch ihre Familien.

      In Zagreb lebte ein bemerkenswerter Mann namens Dr. Marijo Živković. Ein gemeinsamer Freund in Glasgow hatte uns vorgeschlagen, uns mit ihm zu treffen. Er erklärte uns, dass Marijo fantastische Arbeit für Flüchtlinge und Arme leistete, außerdem erwähnte er, dass er ein bekannter und bekennender Katholik war, der aus diesem Grund von den Kommunisten verfolgt worden war. Wir vereinbarten ein Treffen mit ihm im Büro von Merhamet, einer muslimischen Organisation, mit der wir bei der Auslieferung medizinischer Geräte zusammenarbeiteten. Wir waren am Morgen jenes Tages mit einer Narkoseapparatur eingetroffen, die sie dringend angefragt hatten. Wir hatten den Vormittag mit einem passionierten jungen Arzt und seinen Kollegen von Merhamet verbracht, hatten mehr über ihre Arbeit gehört und erfahren, wie wir ihnen in Zukunft noch besser helfen konnten.

      Wegen des Treffens mit Dr. Marijo waren wir etwas nervös, denn tragischerweise befanden sich die Kroaten (überwiegend Katholiken) und die Muslime, die noch bis vor Kurzem in Bosnien-Herzegowina Verbündete im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Serben, gewesen waren, mittlerweile gegeneinander im Krieg, und jetzt loderte glühender Hass zwischen den beiden Völkern. Wie dumm und gedankenlos war es doch von uns gewesen, einen bekannten katholischen Kroaten einzuladen und uns hier bei unseren muslimischen Freunden zu treffen! Wir spürten, dass auch unsere Gastgeber etwas besorgt waren, und ein peinliches Schweigen hatte sich in dem heißen, stickigen Raum breitgemacht, als Marijo dann endlich eintraf. Der große, breitschultrige Mann stürmte in den Raum mit einem gewaltigen Stapel gefrorener Schokoladenriegel im Arm.

      „Bitte bedient euch!“, forderte er uns grinsend auf, kam auf jeden in der Runde zu und bot uns seine Leckerbissen an, als wäre er mit allen im Raum seit Langem gut Freund. Anschließend konnten wir uns die Hand geben und uns vorstellen, und lachend erklärte uns Marijo dann in sehr gutem Englisch, was es mit den Eisriegeln auf sich hatte.

      „Also eine große italienische Gesellschaft wollte das Eis spenden – eine halbe Million Eisportionen! Sie haben sich an mehrere große Hilfsorganisationen gewandt. Von jeder kriegten sie die Antwort, das könnten sie nicht nehmen – ist ja auch eine verrückte, lächerliche Idee, im Hochsommer Leuten Eis zu schicken, die keine Möglichkeit haben, es im Kühlschrank zu lagern. Irgendwer empfahl den Italienern, sie sollten mich anrufen, und als die sich dann meldeten, sagte ich – natürlich Ja! Man kann doch nicht eine solche Menge Eiscreme, mit der man so viele Menschen beglücken kann, ablehnen! Bevor das Eis tatsächlich eintraf, habe ich massenhaft Leute angerufen, dass sie sich drauf einstellen sollten, einiges abzunehmen und es an all ihre Freunde weiterzugeben und an jeden, der ihnen begegnete – das Eis Kindern zu geben, an Schulen zu verteilen. Und ich bin sicher, dass das Eis auch nahrhaft und gesund ist …“ Er brach erneut in Gelächter aus und verleibte sich eine weitere Portion ein.

      „Heute genießen also die Leute in ganz Zagreb gratis Eiscreme!“ Wieder lachte er und schlug seinen neuen muslimischen Freunden auf die Schulter, die mittlerweile ebenfalls schallend lachten.

      So sah die erste der vielen Lektionen aus, die ich von Dr. Marijo im Lauf der nächsten Jahre lernte. Er war ein Virtuose in der Kunst, Geschenke zu machen und anzunehmen. Das Wort „Hilfe“ mochte er nicht. Er sprach lieber von „Geschenken“. Und statt angebotene Geschenke abzulehnen, fand er geniale Methoden, sie entgegenzunehmen. Er schaffte es sogar, vor dem Ende des Kriegs die famose Eiscreme-Verteilungsaktion noch zu toppen, als wir ihn nämlich fragten, ob er Hunderte Tonnen Kartoffeln von schottischen Bauern nehmen würde. Dieses Mal bewältigte er die Logistik, die andere für völlig undurchführbar hielten, indem er einfach sämtliche Kartoffeln auf einem öffentlichen Platz im Stadtzentrum als einen einzigen riesigen Haufen ablud. Dann machte er im öffentlichen Rundfunk eine Durchsage, mit der er die Leute in Zagreb aufforderte, zu kommen und sich zu bedienen! Die hungernden Einwohner der Hauptstadt reagierten prompt, und innerhalb weniger Stunden war auch noch die letzte Kartoffel abgeholt.

      Dr. Marijo, eigentlich Volkswirtschaftler, hatte sich im früheren kommunistischen Staat Jugoslawien über lange Jahre hinweg mit Vorträgen für die Verbreitung der katholischen Lehre über die Familie engagiert. Er wurde zunehmend auch in andere Teile der Welt zu Vorträgen gebeten, und später lud der Papst ihn und seine Frau Darka ein, Mitglieder des Päpstlichen Rats für die Familie zu werden. Die kommunistischen Machthaber verloren irgendwann die Geduld und zogen seinen Pass ein, um ihn am Verlassen des Landes zu hindern, was ihn nicht beeindruckte – er begann stattdessen in Zagreb internationale Konferenzen zu organisieren und lud Leute aus vielen Ländern ein, bis er schließlich seinen Pass zurückbekam. Er und seine Familie gründeten außerdem das Familienzentrum, eine Organisation, die schwangeren, in Armut lebenden Frauen praktische Hilfe anbot – Babykleidung, Nahrung, Kinderwagen, Windeln und so weiter. Das verzweifelte Bedürfnis nach grundlegenden, lebenswichtigen Dingen – nicht nur solchen für Babys – war unter den Flüchtlingen und der Stadtbevölkerung rapide angewachsen, das Familienzentrum hatte sich jetzt also ganz der Aufgabe verschrieben, alle möglichen Arten von Gütern entgegenzunehmen und an sämtliche Personen in Not zu verteilen.

      Nachdem wir festgestellt hatten, dass das Familienzentrum jedermann unterstützte, unabhängig von Volkszugehörigkeit oder Religion (faktisch ging ein Großteil der Hilfe an Muslime), fingen wir an, Marijos alte Eisenbahn-Lagerhalle mit LKW-Ladungen schottischer Geschenke zu beliefern. Bei jedem Besuch lernten wir Marijo, seine Frau Darka und ihre Kinder besser kennen – häufig übernachteten wir bei ihnen, bevor wir uns am nächsten Tag wieder auf unsere Heimreise machten. Marijo, ein überaus intelligenter Mann, der es liebte, öffentlich zu sprechen, beschenkte uns reich mit seinen weisen, philosophischen Sätzen. Er sprach gern und ungeniert von seinen diversen bemerkenswerten Leistungen, was er dann aber häufig mit den Worten beschloss: „Die wichtigste Leistung meines Lebens ist, dass ich Darka getroffen und geheiratet habe … meine zweitgrößte Leistung sind meine fünf Kinder … und das Einzige, was ich bedaure: dass wir nicht mehr bekommen haben …“ Er konnte wunderbar über die Familie, ihre Schönheit und ihre Bedeutung sprechen.

      Ein Großteil der Dinge, die wir mit Marijo zusammen verteilten, ging an mehrere provisorische Flüchtlingslager, in denen überwiegend Frauen und Kinder untergebracht waren. In Reihen überbelegter hölzerner Hütten, die ursprünglich als Unterkunft für Wanderarbeiter gebaut worden waren, lebte eine Gruppe von Frauen und Kindern aus Kozarac, einer Stadt im nördlichen Bosnien-Herzegowina. Trotz ihres Traumas, vielleicht aber auch gerade deswegen, wollten einige über das Grauen reden, das sie durchgemacht hatten.

      Vor dem Krieg hatten in ihrer Stadt überwiegend Muslime gelebt. Seit Längerem war das Gebiet unter serbischer Kontrolle, und die Einwohner von Kozarac gehörten zu den Ersten, die das Grauen „ethnischer Säuberung“ durchmachten: Die Frauen erzählten uns, wie sie in die Wälder


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