Mare Manuscha. Группа авторов

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zwischen Schwabmünchen und Wien hin und her, bis sie schlussendlich mit uns Kindern in Wien geblieben ist. In den ersten Jahren lebten wir zu viert in einem Planwagen, im Wienerischen heißt der Plochenwogn. Das war ein Wohnwagen, der mit einer einfachen Plane bespannt war und vorn einen Kutschbock hatte. Die Frauen haben im Wageninneren und ich habe im Schragl geschlafen. So nennt man das Gestell am Ende des Wagens, wo üblicherweise Stroh und Heu mitgeführt werden. Das war ein sehr gesunder Schlafplatz. (lacht)

      Cornelia Wilß: Wo stand der Plochenwogn genau in Wien?

      Alfred Ullrich: Auf einem freien Platz an der Alten Donau am Ringelseeplatz in Wien-Floridsdorf. Dort lebten schon seit vielen Generationen Sinti, aber auch Roma und sehr viele Lovara.

      Cornelia Wilß: Lovara? Gehören die zu den Roma-Gruppen?

      Romeo Franz: Ja. Die Lovara handelten hauptsächlich mit Pferden und waren oft wohlhabende Leute. Sie sind heute noch stolz auf ihre Herkunft. Lovara sind gute Geschäftsleute.

      Alfred Ullrich: Ja, sehr erfolgreich und wohlhabend. Wie wir als Kinder aufgewachsen sind, mit Pferd und Wagen, das war sehr schön, vor allem im Sommer. Ich erinnere mich an die kilometerlangen Kirschbaum-Alleen im Burgenland und an die Dörfer der Roma hinterm Hügel neben den Häusern von Kroaten und Deutschstämmigen, die in mit Maisstroh gedeckten Lehmhäusern lebten. Wenn es stark geregnet hat, haben sich die Häuser aufgelöst. Die Dörfler sammelten Pilze und Beeren. Wiener Gemüsegroßhändler haben ihnen die gerne abgekauft. Manche Roma haben damals in Wien Arbeit gefunden.

      Romeo Franz: Während du erzählst, geht mir die ganze Zeit über die Frage durch den Kopf, ob deine Mutter von ihren eigenen Leuten ausgegrenzt wurde, weil sie mit einem Deutschen zusammen war.

      Alfred Ullrich: Sagen wir es so: Meine Mutter wurde geduldet. Als Kind habe ich gespürt, dass wir nicht ganz dazugehörten, und mich geweigert, auf Romanes zu antworten, wenn ich angesprochen wurde. Aber wir hatten auch Kontakt zu anderen Sinti. Ich erinnere mich, dass wir im Sommer mit den Verwandten gefahren sind, um Vorhänge anzubieten: in Wien, in Niederösterreich, im Burgenland und in der südöstlichen Steiermark – im Burgenland bis zum an der Südspitze gelegenen Jennersdorf, in der Steiermark etwa bis Fürstenfeld und bis zur Grenze zu Niederösterreich. Hier und da traf man sich. Das war damals ein bisschen so wie ein Heiratsmarkt. Man hat die Kinder miteinander bekannt gemacht.

      Romeo Franz: Wie hat deine Mutter es geschafft, als Überlebende, alleinerziehend und in einem Planwagen lebend euch drei Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen?

      Alfred Ullrich: Unsere Mutter war Analphabetin, legte aber Wert darauf, dass meine beiden Schwestern und ich zur Schule gingen und einen Beruf erlernten. Die Lilly ist Buchbinderin geworden, die Puppa Schneiderin und ich … Lebenskünstler … (lacht) Vorher habe ich aber verschiedene Berufe ausgeübt. Ich war Lebensmittelverkäufer, habe Schriftsetzer gelernt, die Postfacharbeiterprüfung abgelegt, im Bronzeguss und an Münchner Bühnen als Bühnenarbeiter gearbeitet … Na ja, meine Mutter ist hausieren gegangen und hat eine Gadji, die selber drei Kinder hatte, als Kindermädchen für uns engagiert, damit sie auf Geschäft gehen konnte.

      Romeo Franz: Nun, ihr ist ja nichts anderes übrig geblieben. Sie hatte ja drei Kinder. Die wollten essen. Was sollte sie machen?

      Cornelia Wilß: Die Familie zog 1959 in die Wiener Josefstadt, in ein Haus mit einem eisernen Gang …

      Alfred Ullrich: Ja, wir bekamen eine Wohnung zugeteilt, in einem alten Biedermeierhaus, sehr romantisch anzuschauen, im 8. Bezirk, in der Josefstadt. Es war ein einfaches Haus mit eisernen Gängen, Pawlatschen nennt man die, gleich hinterm Wiener Rathaus, von wo aus man zu Fuß ins Stadtzentrum gehen konnte. Als wir nach Wien zogen, sah man in unserem Viertel noch zerbombte Häuser, und es standen ausgebrannte Autos herum. Auf diesen Schutthalden haben meine Geschwister und ich gespielt.

      Die Atmosphäre dort war besonders. Es gab da einen Treffpunkt am Donaukanal, wo sich in der Vorkriegszeit und während des Krieges die „Schlurf“ getroffen hatten. Wisst ihr das? Das waren junge Männer mit längeren Haaren, die karrierte Sakkos trugen und nicht zur Hitlerjugend wollten. Die wollten zu Jazzmusik tanzen und rauchen. Manche von ihnen sind deswegen ins KZ gekommen. Nach dem Krieg bildete sich dort ein neuer Szenetreff. Ohne es zu wissen, trafen sich die jungen Leute wieder genau an jener Stelle am Donaukanal, wo sich die „Schlurf“ im Krieg gern aufgehalten hatten. Später sollte dort sogar eine Art Jugendrepublik gegründet werden. Das war um 1968. Die bestand wohl nur einige Jahre.

      In der Josefstadt gab es Künstlercafés und Jazzclubs, es war ein gewisses Bohème-Milieu. Eine Zeit lang verdiente ich Geld mit Pflastermalen. Weil ich nicht besonders gut zeichnen konnte, gab es nicht ganz so viel Geld. Als ich mich dann auf picassoartige Abstraktionen verlegte, waren immer ein paar hundert Schilling im Hut. Das reichte locker für den Kaffeehausbesuch. Wenn man gut zeichnen konnte, zum Beispiel den Mann mit dem Goldhelm, konnten es auch schon mal ein paar tausend Schilling am Tag sein. Ich hatte damals die kaufmännische Lehre fertig und keine Lust, im Büro zu arbeiten. Ich bin lieber mit den Künstlern zusammen gewesen, anstatt meine Mutter zu unterstützen. Meine Schwestern haben damals noch die Schule besucht.

      Irgendwann hielt ich das alles nicht mehr aus und ging fort. Andere reisten nach Indien oder woandershin. Ich war in München, Berlin und dann sehr gern in Skandinavien unterwegs, überwiegend in Schweden, habe Kunstschaffende kennengelernt und manchmal als Aushilfe am Theater gearbeitet. Das ging über viele Jahre so.

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      Alfred Ullrich: Caravan 2010, Kaltnadel blau überrollt Courtesy Galerie Kai Dikhas

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      Alfred Ullrich: Patterns 2018, Farbradierung von drei Platten Courtesy Galerie Kai Dikhas

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      Alfred Ullrich: Überlagerung, 1998, Experimenteller Tiefdruck. Courtesy Galerie Kai Dikhas

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      Alfred Ullrich: Metamorphosis, 1998, eine von 13 Variationen, Farbradierung von mehreren Platten. Courtesy Galerie Kai Dikhas

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      Aktuelle Reinzenierung der Kunstaktion Gadschi, Sinti, Roma, Manouches… Positionen zwischen Ausgrenzung und Akzeptanz, die erstmals 2011 am Ortsrand von Dachau stattfand

      Cornelia Wilß: Sie haben gerade gesagt, dass Sie viele unterschiedliche Berufe ausgeübt haben. Wann kam der Zeitpunkt, ab dem Sie ausschließlich als Künstler gearbeitet haben?

      Alfred Ullrich: Das war ein fließender Prozess. Mitte der 1970er Jahre habe ich in Bayern im künstlerischen Bronzeguss gearbeitet. Danach war ich an Münchner Bühnen als Bühnenarbeiter angestellt. Später habe ich in einer Werkstatt für manuelle Druckverfahren für andere Künstler Auflagen gedruckt. Künstlerisch tätig zu sein, das war schon eine gewisse Leidenschaft, obwohl ich als Autodidakt eher zufällig zur Kunst gefunden habe. Mir haben dieses Milieu und die Möglichkeit gefallen, selber etwas zu gestalten: im Bronzeguss, durch Modellieren, Formen – mit den Händen. Das ist es: etwas sozusagen zu be-greifen. Über das Konkrete entsteht eine Idee im Kopf, die sich damit verknüpft.

      Cornelia Wilß: Sie leben seit 1980 im Landkreis Dachau. Warum kamen Sie ausgerechnet nach Dachau?

      Alfred Ullrich: Die Amerikaner hatten in den letzten Kriegstagen das halbe Dorf in Schutt und Asche gelegt. Ich zog 1980 in ein Haus, das aus Schutt wiederaufgebaut worden war. Es gab dort genug Platz, und ich konnte mir eine Werkstatt für Kupfer-Druckgrafik einrichten. Das Haus übernahm ich von einer Wohngemeinschaft.


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