"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer
Wolfram Knauer
»Play yourself, man!«
Die Geschichte des Jazz in Deutschland
Reclam
2019, 2021 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Durchgesehene Ausgabe 2021
Coverabbildung: Birdland, Hamburg. © Jan Köppe, pixeljanosch.de
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961517-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011360-8
Intro
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Jazz in Deutschland, von den Anfängen seiner Rezeption bis zu den aktuellsten Diskursen, die er hervorgebracht hat. Es basiert auf Recherchen über die Musik und ihre Protagonisten, die mich seit Jahrzehnten umtreiben, spätestens seit dem Beginn meiner Arbeit für das Jazzinstitut Darmstadt, das viele Dokumente zur deutschen Jazzgeschichte sammelt und das größte Jazzarchiv Europas beherbergt. Das Buch soll eine objektive Sicht auf einen Teilaspekt deutscher Musikgeschichte bieten, fußt aber, wie jedes Buch, natürlich auch auf der subjektiven Auswahl und Sichtweise des Autors. Ich habe versucht, meiner eigenen Perspektive die anderer gegenüberzustellen, solche von Zeitgenossen etwa, von Musikern, solche der Jazzkritik oder des Feuilletons, und dabei mit dem Bewusstsein zu schreiben, dass nicht nur die Jazzfans ein Recht auf ihre Meinung haben, sondern dass auch diejenigen, denen diese Musik suspekt ist, Teil des Diskurses sind.
Mein Anliegen ist, die Geschichte der Jazzrezeption in diesem Land entlang der dokumentierten Musik zu erzählen. Ich habe viel gehört und versucht, aus der Musik heraus die relevanten Fragen zu künstlerischer Haltung und Rezeption des Jazz zu entwickeln, diese dann zu kontextualisieren, in die gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Diskurse der Zeit einzupassen und all das am Ende wieder in die Musik zurückzuspiegeln. Die Musik war beim Verfassen also Auslöser meiner Fragen wie auch letztes Korrektiv. Dieses Buch soll eine Geschichte des Jazz in Deutschland erzählen, die dem Leser ohne viel Vorwissen genauso viel an Information und historischer Einordnung gibt, wie es der Expertin Anregungen zum Hinterfragen allgemeiner Vorstellungen bietet.
Eine Frage, die mich besonders umtrieb bei der Arbeit am Buch, war, warum diese Musik hierzulande so starke emotionale Reaktionen hervorrufen konnte, sowohl für als auch gegen den Jazz. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, werde ich über Aufnahmen sprechen, in denen der Enthusiasmus der Musiker deutlich spürbar ist, daneben aber auch über solche, die aus heutiger Sicht und im Vergleich mit amerikanischen Einspielungen aus derselben Zeit eher brav, bieder, rhythmisch, melodisch oder harmonisch wenig spannend wirken. Ich musste dabei selbst lernen, solche Beispiele als Zeugnisse eines zeitgenössischen Musikgeschmacks ernst zu nehmen, der eben nicht unbedingt den direkten Vergleich im Sinn hatte. Extreme Stereotype, etwa dass deutsche Rhythmusgruppen nicht swingen konnten oder – am anderen Ende des Spektrums – dass herausragende Solisten »genauso gut« waren wie ihre amerikanischen Kollegen, bleiben nun mal an der Oberfläche dessen, wie wirklich musikalische Entscheidungen gefällt werden. Ich sah es als meine Aufgabe an, die Musik erst einmal als ein Zeugnis zu hören, das für sich steht, und überall dort, wo ich aus der Perspektive der Gegenwart heraus eine klare ästhetische Haltung hatte, mich zu fragen, welche anderen Perspektiven denn auch noch möglich seien.
Eine weitere Vorbemerkung sei erlaubt, die mir wichtig ist, weil dieses Buch sich wenigstens in einem nicht stark von den meisten anderen Büchern seiner Art unterscheidet: Es erzählt die Geschichte des Jazz (in diesem Fall in Deutschland) aus der Perspektive eines männlichen Autors und am Beispiel vorrangig männlicher Musiker. Das Narrativ ändert sich, je mehr die Geschichte sich der Gegenwart nähert, denn die Realität der Geschlechterverteilung im Jazz hat sich in den letzten Jahren verändert. Und doch sollte man selbst dort, wo die Aktivitäten von Musikerinnen nicht dokumentiert sind, diese immer mitdenken.
So standen bereits in den Anfangstagen des Jazz auch in Deutschland Instrumentalistinnen auf der Bühne. Die Nazis platzierten die Frau zurück »an den Herd« und beeinflussten damit ein Rollenbild, das erst durch die Frauenbewegung der 1960er Jahre allmählich wieder aufgebrochen wurde. Der Jazz blieb allerdings bis weit in die 1970er Jahre hinein eine männerbündnerische Angelegenheit, bei der Frauen höchstens im Publikum auftauchten, aber weder als Sammlerinnen, geschweige denn als ernsthafte Instrumentalistinnen akzeptiert wurden. Mitte der 1970er Jahre begann sich das zu ändern, als Musikerinnen aus dem Kreis um Irène Schweizer und Joëlle Léandre mit feministischem Selbstbewusstsein an die Musik herangingen und mehr und mehr jüngere Künstlerinnen begannen, die wenigen bekannten Vorbilder zu studieren, seien es amerikanische Instrumentalistinnen wie Mary Lou Williams und Melba Liston oder europäische wie Barbara Thompson und Marilyn Mazur. Vor allem aber blickten sie auf Jutta Hipp, die bereits Anfang der 1950er Jahre bewiesen hatte, dass eine Musikerin auch ohne den »Exotenbonus« als Frau am Instrument ernst genommen werden konnte.
Insbesondere die Möglichkeit, Jazz an Hochschulen zu studieren, ermutigte Musikerinnen in den 1980er und 1990er Jahren, diese Musik als Karriereweg zu wählen und sich dabei nicht länger auf festgeschrieben scheinende geschlechterspezifische Instrumentenzuordnungen einzulassen. So gibt es im 21. Jahrhundert neben Pianistinnen (lange Zeit das einzige auch öffentlich akzeptierte »Frauen«-Instrument) selbstverständlich Saxophonistinnen, Trompeterinnen, Posaunistinnen, Kontrabassistinnen, Schlagzeugerinnen, von ungewöhnlichen Instrumenten (Tuba, Blockflöte, Theremin, Harfe) ganz zu schweigen. In den Clubs und bei Festivals scheint diese Realität heute selbstverständlich, doch merkt man, wie viel da noch zu tun ist, wenn man bedenkt, dass in den ARD-Bigbands auch 2018 nur drei Musikerinnen saßen und dass erst im selben Jahr mit der Schlagzeugerin Eva Klesse die erste Instrumentalistin zu einer Professorin an einer deutschen Musikhochschule berufen wurde.
Die Auswahl der Musiker und Aufnahmen, entlang derer ich im Folgenden die Geschichte des Jazz in Deutschland erzähle, versucht auf der einen Seite repräsentativ zu sein, ist auf der anderen Seite alles andere als erschöpfend. Ich musste für jede Phase der Jazzentwicklung eine Auswahl treffen. Aus der zeitlichen Distanz lässt sich für die Musik bis in die 1970er Jahre einigermaßen urteilen, was wichtig war und Einfluss hatte, doch wird diese Auswahl umso schwerer, je näher die Erzählung der Gegenwart kommt. Letzten Endes ist meine Auswahl hier wie anderswo im Buch einerseits subjektiv, andererseits immer nur beispielhaft für künstlerische Entwicklungen und ästhetische Entscheidungen im deutschen Jazz. Ich hätte auch andere Künstler wählen können, andere Aufnahmen, und ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, Ihre eigenen Hörerfahrungen in die historischen Raster einzuordnen, die ich Ihnen im Folgenden anbiete. Missverstehen Sie dieses Buch also bitte nicht als ein Lexikon oder als einen Kanon des deutschen Jazz. Es geht mir nicht um die Nennung aller Namen, Daten und Fakten, sondern um eine Einordnung ästhetischer Diskurse und musikalischer Entwicklungen. Es geht um den kreativen Umgang hiesiger Musikerinnen und Musiker mit einer Musik, die Afro-Amerika der Welt mit der Aufforderung schenkte, sie produktiv weiterzuentwickeln, sich dabei immer der eigenen Wurzeln bewusst zu sein, aber ihren Ursprung nie zu vergessen, jene Feier von Gemeinschaft, Community, Widerständigkeit, Respekt und Individualität, die den Jazz zum Begleiter der Bürgerrechtsbewegung in den USA genauso machte wie zur Hoffnung freiheitsliebender Fans in Diktaturen und totalitären Gesellschaften.
Da mir Perspektiven wichtig sind, beschreibe ich am Schluss dieses Buchs, wie ich selbst zum Jazz kam. Für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wird diese Musik teilweise dasselbe, teilweise etwas komplett anderes bedeuten. Jede und jeder von Ihnen bringt eine eigene musikalische Sozialisation mit, eigene Hörvorlieben, insbesondere aber eigene Erinnerungen an Konzerte oder Tonträger, die Sie besonders beeindruckt haben. Sie alle besitzen eine eigene Perspektive, und meine Hoffnung ist, dass Sie diese mit in die Lektüre dieses Buch einbringen, dass Sie sich von meiner Darstellung dazu inspirieren lassen, für den Moment von der eigenen Erfahrung zu abstrahieren und die Musik,