"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer
vom April 1944.
Der Star dieser Aufnahmen ist – neben Brocksieper selbst – der Pianist Primo Angeli. Angeli war ein brillanter Techniker, in seinen Soli allerdings steht nie die Technik, sondern der musikalische Zusammenhang im Vordergrund. In den häufigen Boogie-Partien, den gegenläufigen Linien, in effektvoll eingesetzten Oktavtremoli über Stride-Bässen hört man den Einfluss des amerikanischen Pianisten Joe Sullivan. »So ist es …«, »Ernst und Heiter« und besonders »Peinlich«, alle von 1942, sind hierfür beste Beispiele. In langsameren Stücken wie »Kosende Hände« vom April 1942 scheint in den Dezimengängen der linken Hand, im gemächlichen Stride, in typischen Arpeggien der Einfluss Teddy Wilsons durch. Und in »Cymbal-Promenade« vom Juli 1943 spielt Angeli am Cembalo einen wirkungsvollen, deutlich markt-orientierten Blues-Boogie mit vielen gelungen eingefügten Barock-Klischees.
Der Bandleader Fritz Brocksieper selbst steht beispielsweise in »Verrückte Beine« vom Januar 1943 im Vordergrund: Er passt sich den verschiedenen Teilen des Arrangements exzellent an, variiert virtuos die Drum- Technik – unter Trompeten- und Basssolo, in den Schlagzeugbreaks, unter dem Riff-Chorus, im langsamen Outro usw. – und beeinflusst damit den dramaturgischen Gang der gesamten Aufnahme. In vielen der Arrangements seiner Band spielen Tempowechsel eine wichtige Rolle: 8- bis 32-taktige Doubletime-Passagen (»So ist es …«), oder langsame Abschnitte inmitten schneller Stücke (»Liebeslaunen«, »Verrückte Beine«, beide vom Januar 1943). Im Vergleich der Aufnahmen gleicher Titel übrigens kann man auch Unterschiede im Spiel des Schlagzeugers selbst feststellen: In »Brocksi-Foxtrott« vom Oktober 1941 setzt er seine Akzente stark vor den Beat und treibt kräftig; in »Die Trommel und ihr Rhythmus« vom Februar 1942 sind die Schlagzeugfiguren in der Begleitung wie auch in den Soli weit zurückhaltender und besser ins Ensemble eingepasst. Brocksieper erhält immer wieder kurze Solopartien, aber eigentlich steht er auch dort im Mittelpunkt der Aufnahmen, wo er nur als Begleiter fungiert: Er treibt seine Kollegen an, strukturiert das musikalische Geschehen, ändert die Klangfarben der Begleitung. Es gab zu dieser Zeit wohl kaum einen anderen europäischen Schlagzeuger, der so »musikalisch« spielte wie Fritz Brocksieper.
Georg Haentzschels »Ich wüsst’ so gern« vom Februar 1942 zeigt, dass sich auch ein deutscher Schlager hervorragend für jazzige Interpretationen eignen kann. Ansonsten allerdings finden sich in diesen Aufnahmen auch die bekannten Harmonien amerikanischer Hits – allerdings im Gewand neuer Themen und mit neuen Titeln: »Brocksi-Foxtrott« oder »Die Trommel und ihr Rhythmus« beispielsweise über die Harmonien von George Gershwins »I Got Rhythm«, »Ich sing mir eins« vom März 1943 über die Harmonien von »You’re Driving Me Crazy«.
Die vom Jazz-Standpunkt her am besten gelungenen Aufnahmen Brocksiepers aus diesen Jahren sind die auf Decelith-Folie festgehaltenen und leider nur in äußerst schlechter Tonqualität überlieferten Quintett/Sextett-Einspielungen aus dem Reichssender Stuttgart vom April 1944. In »Swinging Tom-Tom« und »Kosende Hände« hört man, wie gut die Rhythmusgruppe – insbesondere Gitarre, Kontrabass und Schlagzeug – swingen konnte. Und der »Shoe Shine Boy« ist trotz des hier extrem starken Rauschens und Knisterns ein Beispiel exzellenter Smallband-Swingmusik, die neben amerikanischen Aufnahmen der Zeit durchaus bestehen kann.
Einige der Mitglieder von Charlie and his Orchestra wurden nach dem Krieg bekannte Bandleader oder Orchestermusiker. Viele der ausländischen Musiker blieben nach Kriegsende aus Furcht, in ihrem Heimatland als Kollaborateure beschuldigt zu werden, in Deutschland. Sie sprachen nicht von ihrer Zeit im Charlie-Orchester oder aber spielten den Anteil, den sie an der Musik hatten, herunter. Brocksieper selbst erzählte später, er habe die Propagandatexte gar nicht so wahrgenommen. »Musikalisch«, sagte er, »spielten wir die beste Bigband-Musik, weil wir die besten Jazzmusiker hatten, die man kriegen konnte, alle in einem Orchester.«167 Nach dem Krieg tauften Freunde seinen Vornamen in Freddie um, und Brocksieper blieb in den späten 1940er und 1950er Jahren eine feste Größe des deutschen, insbesondere des Münchner Jazz. Als er in der Nachkriegszeit in einem der amerikanischen Soldatenclubs spielte, ereignete es sich, dass »einige Amerikaner zu uns aufs Podium [kamen] mit der Armeezeitung ›Stars and Stripes‹ in der Hand und wollten Autogramme. Da sahen wir, dass in der Zeitung Fotos von uns abgedruckt waren. Der Bildtext unter den Fotos lautete: ›You got the band of Mr. Goebbels‹. Die waren ganz aus dem Häuschen. Die Sache war uns natürlich ziemlich peinlich. Dennoch erfüllten wir die Autogrammwünsche, schon allein deshalb, damit wir sie vom Halse hatten.«168
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