Wider den kirchlichen Narzissmus. Manfred Scheuer

Wider den kirchlichen Narzissmus - Manfred Scheuer


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      Wenn wir „Toleranz“ hören, denken wir an soziale Beziehungen. Der stoische Begriff tolerantia betrifft zunächst das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, die Fähigkeit etwa, ein schweres Schicksal zu tragen. Tolerare heißt „durchtragen“.23 Eine soziale Tugend war das noch nicht. Ein Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und von Gemeinschaftsbildung ist Toleranz durch das Christentum geworden.24 „Die Liebe er-trägt alles“ (1 Kor 13,7). „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2). – Prototyp dieser Haltung ist der leidende Gerechte, der Gottesknecht des Deuterojesaja, den die Christen im Juden Jesus aus Nazaret verehren.

      Von Toleranz zu sprechen, wenn man das andere in seiner Vielfalt als Bereicherung erfährt, verharmlost das Wort. Schönes und Bereicherndes aufzunehmen bedarf nicht der Toleranz. Welche Frau würde sagen, sie toleriere ihren Mann? Eher schon, sie liebe ihren Mann, deswegen toleriere sie seine Schlamperei. Die Toleranz steht zwischen Ablehnung und uneingeschränkter Bejahung. Sie hält dazu an, etwas zu ertragen, was eigentlich unerträglich erscheint. Toleranz bedeutet die Fähigkeit, eine andere Überzeugung oder ein anderes Verhalten – mitunter zähneknirschend – auszuhalten, durchzutragen, hinzunehmen.

      Das hat eine wichtige Konsequenz: Zwar eröffnet Toleranz einen sozialen Raum, in dem Zusammenleben möglich ist. Aber dieser Raum ist begrenzt. Es ist ein Unding, grenzenlos tolerant zu sein. Eine Gemeinschaft oder Gesellschaft, die keine Grenzen der Toleranz kennt und alles erlaubt, zerstört sich selbst. Das ist zwangsläufig so, weil unbegrenzte Toleranz auch ihren Feinden, nämlich der Intoleranz, der Willkür und der Gewalt freie Hand lassen müsste. Die globale Aushöhlung von verbindlichen Inhalten entpuppt sich immer mehr als Komplizin der Gewalt und der Beliebigkeit. Im Zeitalter des kulturellen Pluralismus neigen nicht wenige dazu, die widersprüchlichsten Auffassungen im Bereich der Ethik oder Religion gelten zu lassen. Es kommt – so der Wiener Kulturphilosoph Günter Anders – zu einer weltanschaulichen Promiskuität. Wer an dieser unterschiedslosen Liberalität, an dieser schlechten Gleichheit Anstoß nimmt, „gilt als kulturell prüde, stur, provinziell, unaufgeschlossen, intolerant, undemokratisch, unkultiviert – und eng sogar auch in moralischer Hinsicht.“25 „Wer alles schön findet, ist nun in Gefahr, nichts schön zu finden. … Kein Blick erreicht das Schöne, dem nicht die Gleichgültigkeit, ja fast die Verachtung gegen alles beigesellt wäre. … Liberalität, die unterschiedslos den Menschen ihr Recht widerfahren lässt, läuft auf Vernichtung hinaus wie der Wille der Majorität, die der Minorität Böses zufügt und so der Demokratie Hohn spricht. … Aus der unterschiedslosen Güte gegen alles droht denn auch stets Kälte und Fremdheit gegen jedes, die dann wiederum dem Ganzen sich mitteilt. Uneingeschränkte Güte wird zur Bestätigung all des Schlechten.“26

      Die Wendehälse sind überall dabei, die Widersprüche gehören zum System. Ja und Nein verkommen zu einer Frage des Geschmacks und der Laune, Leben oder Tod wird zur Frage des besseren Durchsetzungsvermögens, Wahrheit oder Lüge eine Frage der besseren Taktik, Liebe oder Hass eine Frage der Hormone, Friede oder Krieg eine Frage der Konjunktur. Die Unterscheidung zwischen Humanität und Barbarei, zwischen sittlichen Prinzipien und verbrecherischen Grundsätzen liegt dann auf der Ebene der bloßen Emotion oder des Durchsetzungsvermögens.27 Die Selbstbeschränkung des Denkens, das sich skeptisch weigert, Entscheidungen zu treffen und nach Gerechtigkeit zu suchen, wird insgeheim zur Komplizin des (Un-) Rechtes des Stärkeren.

      Tolerant kann nur sein, wer einen Standpunkt hat. Die Toleranz rät nicht, dass wir im Gespräch mit anderen Religionen und Kulturen Unterschiede kaschieren, sondern dass wir sie aushalten im Respekt voreinander. Sie verlangt Entschiedenheit, verbietet dabei aber jede Form innerer oder äußerer Pression und Gewalt. Deswegen ist es unmöglich, zugleich dem Moloch zu dienen und Gott, dem „Freund des Lebens“ (Weish 12,6). Anything goes (Paul Feyerabend) geht nicht. Fanatische Intoleranz lässt sich nicht durch grenzenlose Toleranz überwinden; die ist entweder blind oder zynisch, sie bahnt faktisch dem Fundamentalismus den Weg. Wenn alles geht, kommt es auf nichts mehr an. Wenn nichts mehr zählt, zählt am Ende nur noch, was sich auszahlt. Auch Toleranz im Sinn dieses Wortes kostet ihren Preis, und zwar für den, der sie übt. Sie schmerzt, daran führt kein Weg vorbei.

      Deswegen fordert Papst Benedikt XVI. nicht nur im Hinblick auf den Islam, sondern auch im Hinblick auf Strömungen in der Kirche das Gespräch zwischen Glaube und Vernunft. Der Dialog soll nicht naiv sein, weder fundamentalistisch im Hinblick auf die eigene Glaubensüberzeugung, noch geprägt von einer gleichgültigen und permissiven Toleranz. Der Dialog mit anderen Religionen und Kulturen braucht Klarheit, Klugheit und Vertrauen, die Überzeugung des eigenen Glaubens und das Wissen um die eigene Tradition.28

      SPIRITUALITÄT DES FRIEDENS

      Nach der Shoah gingen entscheidende Impulse für die Begegnung zwischen Juden und Christen u. a. von dem jüdischen Historiker Jules Isaac29 aus, einem Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe Amitié Judéo-Chrétienne (1948). Jules Isaac hatte Frau und Tochter in Auschwitz verloren, nur weil sie Isaac hießen. In seinen bekannten Werken Jésus et Israel (Paris, 1946)30 und L’enseignement du mépris (Paris 1962) zeigt Jules Isaac die jüdischen Wurzeln des Christentums auf und fasst wesentliche Aspekte der antijüdischen Traditionen in den Kirchen als „Lehre der Verachtung“ zusammen. Jules Isaac hat 45 Briefe an Claire Huchet-Bishop31 geschrieben32. In Brief Nr. 39 fordert Isaac die Verurteilung der „Lehre von der Verachtung“, die dem jüdischen Volk durch die christliche Verkündigung zuteilwird. Diese Verurteilung muss von höchster Stelle aus geschehen (durch den Papst bzw. durch ein Konzil). – Statt der jahrhundertelangen „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) hat eine christliche Theologie des Judentums in der Besinnung auf seinen jüdischen Ursprung in Jesus von Nazaret und den Verfassern der neutestamentlichen Schriften diese jüdischen Wurzeln bzw. diesen jüdischen Stamm (Röm 11,16–18) anzuerkennen, ohne die und ohne den es zum Austrocknen verurteilt wäre. Isaac beschäftigte sich intensiv mit dem Verhältnis von Verachtung und Gewalt. Schrittweise rechtfertigt Verachtung Gewalt und dann den Krieg. Isaac meint, dass die Verachtung in Wertschätzung und Dialog verwandelt werden muss.

      In einer Spiritualität des Friedens geht es zunächst um eine Abrüstung des Denkens. Da sollen eigene Verfolgungsängste und Hassgefühle aufgearbeitet, Feindbilder abgebaut und Vorurteile hinterfragt werden. Von da her ist es ihr wichtig, wohl mit den eigenen Grenzen zu leben, mit diesen aber dynamisch umzugehen und so leibliche, biologische und nationale bzw. ethnische Grenzen zu überschreiten.

      Die anderen, in der Vergangenheit die Italiener oder die Franzosen, auch die Polen und die Russen, in der Gegenwart Menschen aus der ehemaligen UdSSR, aus Afrika, werden nicht von selbst vertraut. Dies hängt an grundsätzlichen Einstellungen zum Leben bzw. an Lebensentwürfen, die negativ über der eigenen Identität wachen. Unter diesen Vorzeichen steht auch die Gabe der Freiheit des Fremden. Selbstbestimmung und Freiheit wird auf den Kampf gegen Abhängigkeit und Fremdbestimmung, aber auch gegen Bindung und Beziehung reduziert. Freiheit wäre Sich-Losreißen. Das Selbsterhaltungs-Ich zeichnet sich durch Misstrauen, Rationalität, Kontrolle und Kritik aus. In Verhärtungen oder auch in Blockbildungen findet das Individuum nicht sein Heil. Menschliche Identität gelingt nicht in der Gettoisierung oder in einer Festung, nicht durch kämpferische Selbstverteidigung, Verhärtung oder Totalbewaffnung und ist auch nicht machbar.

      Abrüstung in den Köpfen wird positiv überwunden durch konkrete Partnerschaften z. B. mit Gruppen aus Tschechien oder Polen, durch Symbolhandlungen wie z. B. die gemeinsame Wallfahrt nach Mariazell beim Mitteleuropäischen Katholikentag im Mai 2004, durch gemeinsame Ferien und Symposien, durch den Gedenkdienst in Auschwitz und in Israel, durch Anwaltschaft für Asylanten und Fremde, Anwaltschaft für Behinderte, Sinti und Roma.

      Eine Spiritualität des Friedens muss an die Wurzeln von Konflikten und Kriegen gehen. An der Wurzel von Terror und Barbarei stand nicht selten die Anmaßung absoluter Macht über Leben und Tod, stand die Verachtung des Menschen, in der Nazizeit die Verachtung von Behinderten und Zigeunern, die Verachtung von politischen Gegnern, die Verachtung von Traditionen, die im jüdischen Volk lebten und leben, die Verachtung der ‚anderen‘. Diese Verachtung hat sich aller Kräfte, auch der der Wissenschaften, der Medizin,


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