Olympische Spiele. 100 Seiten. Gunter Gebauer

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zu propagieren. Mit seiner Werbeveranstaltung setzte Coubertin bei den Spitzen der Gesellschaft ein, um mit einer Aktion von oben die Begeisterung an sportlichen Wettkämpfen zu wecken, zuerst in seinem eigenen Land, dann in anderen europäischen Nationen. Er vertraute darauf, dass dieses Projekt gerade den Mächtigen willkommen sein würde: Die Spiele konnten für nationalistische Zwecke und für das Distinktionsstreben höherer gesellschaftlicher Kreise genutzt werden. Darüber hinaus versprachen sie einen hohen pädagogischen Nutzen.

      Coubertin jonglierte mit Mehrdeutigkeiten, hofierte mit ambivalenten Vorschlägen potentielle Verbündete, gewann sowohl Vertreter der Friedensbewegung als auch Generäle für seinen Plan, verführte Bildungsbürger mit seiner Bewunderung für das Griechentum und sicherte sich die Zustimmung von Mitgliedern des europäischen Hochadels, zu denen er aufgrund seiner Herkunft aus einer angesehenen Familie Zugang hatte. Seine Formel war ebenso genial wie in sich widersprüchlich: Die Spiele sollten eine neue Aristokratie des Leibes hervorbringen. Die Vorstellung nobler antiker Athleten war für alle Fraktionen gleichermaßen anziehend, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Den republikanischen Teil seiner Anhänger überzeugte die Vorstellung einer neuen Führungsklasse, die sich durch Leistung anstatt durch gesellschaftlichen Stand auszeichnete, während seine adeligen Freunde die Vorstellung begrüßten, dass sich die alte Aristokratie über körperliche Betätigung erneuern könne.

      In allen Milieus der fortschrittlichsten europäischen Nationen hatten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Forderungen nach Erneuerung der Kultur ausgebreitet. Dafür wurden unterschiedliche Gründe angeführt. Ein biologisch-medizinischer Grund war die Annahme eines Vitalitätsverlusts, der sich in einer zunehmenden körperlichen Schwäche, einer Art Müdigkeit äußere, mit einem pseudowissenschaftlichen Begriff fatigue genannt. In den kulturellen Strömungen des Fin de siècle diagnostizierte man eine extreme Verfeinerung der Sensibilität, die zu Kraftlosigkeit führe. Die pessimistischen Deutungen stimmten in dem Urteil überein, man lebe in einer Epoche der décadence. Auch jene Vertreter, die darin eine kulturelle Höherentwicklung sahen, suchten Wege der Erneuerung der Werte und des eigenen Lebens.

      Coubertins Pläne waren an der Hochkultur orientiert, gingen aber in einem entscheidenden Schritt über die in seiner Zeit üblichen Rettungsversuche hinaus: Die von ihm propagierte Kulturerneuerung sollte eine athletische Existenz der Jugend entstehen lassen. Durch sportlichen Wettkampf sollte der Mensch ethisch und körperlich verbessert werden. Diese Einsicht hatte Coubertin bei seinen Reisen nach England gewonnen, wo er Oxford, Cambridge, Eton, Harrow, Rugby und andere für ihre sports bekannten Schulen besucht hatte. Mit der Einführung von Sport in das Bildungssystem wollte er sowohl das französische jesuitisch geprägte als auch das militaristische Erziehungssystem überwinden. Keine Paukschule und kein Drill, vielmehr Erziehung zu individueller Tüchtigkeit.

      Nach Coubertins Überzeugung war sportliche Aktivität geeignet, nicht nur die vitale Grundlage des Menschen, sondern auch seine charakterlichen Dispositionen zu stärken. Durch intensives sportliches Training werde die Fähigkeit zu effizientem Handeln erworben. Voraussetzung dafür sei, dass die Athleten ihren Sport selbstbestimmt ausübten. In einem Vortrag von 1889 spricht Coubertin von ihnen als »self-governing men«. Gemeint ist damit das ethische Prinzip, seinem Handeln selbst Regeln zu setzen, denen man sich freiwillig unterordnet. Ohne ethische Weiterentwicklung bliebe die körperliche Leistungssteigerung ohne Wert.

      1894 waren auf Einladung des Barons 70 Delegierte von 37 Sportverbänden aus neun Ländern gekommen. Insgesamt nahmen 2000 Personen an der Veranstaltung teil. Die Idee der Olympischen Spiele der Neuzeit wurde bei ihrer Geburt mit einem beträchtlichen kulturellen Startkapital ausgestattet. Coubertins Plan ging auf: Nach einer Woche des Debattierens wurde ein privates, unabhängiges ständiges Komitee gegründet mit einem Präsidenten, dem griechischen Dichter Dimitrios Vikelas auf dem (repräsentativen) Stuhl des Präsidenten, und Coubertin in der einflussreichen Position des Generalsekretärs. Alle weiteren Mitglieder aus zwölf Nationen wurden von ihm persönlich ausgewählt. So wurde sichergestellt, dass nur solche Personen aufgenommen wurden, die mit dem Generalsekretär harmonierten. 1894 umfasste das Komitee fünf Mitglieder des europäischen Hochadels, zwei Generäle und zwei Akademiker. Eine ähnliche Stellung hatten die später von Coubertin hinzugewählten weiteren siebzig Mitglieder des Komitees. Diese Nominierung durch Kooptation, durch persönliche Zuwahl, war ein Garant dafür, dass man sich im Komitee verstehen würde. Sie blieb lange das Prinzip der Rekrutierung der Mitglieder des IOC. In den 1970er Jahren öffnete sich der Zirkel der Olympier gegenüber Vertretern der Politik und Wirtschaft, was sich auf die Institution nicht nur vorteilhaft auswirkte.

      Vor Coubertin gab es zahlreiche Versuche, die Olympischen Spiele wiederzubeleben, aber sie blieben folgenlos. Keinem der Vorläufer Coubertins war es je gelungen, ein Organisationskomitee mit internationaler Beteiligung und ein breites öffentliches Interesse zustande zu bringen. Ein Schlüssel für Coubertins Erfolg war die ideologische und politische Offenheit seiner Einladungspolitik. Was die Mitglieder einte, war ihre Begeisterung für Griechenland. Das Land war im 19. Jahrhundert mit vereinten europäischen Kräften von der Herrschaft des Osmanischen Reichs befreit worden und hatte 1832 einen deutschen Adeligen als König bekommen.

      Die Verwirklichung von Coubertins Plänen drohte jedoch kurz nach dem Sorbonne-Kongress an der schlechten wirtschaftlichen Situation Griechenlands zu scheitern. Erst die entschiedene Unterstützung des Königs Georg I. von Griechenland rettete die Olympiapläne. Er erklärte die Spiele von Athen zu einem patriotischen Unternehmen des Wiederauflebens der griechischen Kultur. Mit der gewaltigen Geldspende eines reichen griechischen Geschäftsmanns aus Alexandria konnte das Panathinaiko-Stadion in Athen vollständig renoviert werden. Schließlich wurden die Spiele 1896 am Tag der griechischen Unabhängigkeit mit großem Publikumszuspruch eröffnet; Berichte sprechen von bis zu 70 000 Zuschauern.

      Zwei Wochen lang kämpften 240 Athleten aus dreizehn Ländern in etwa 40 Wettbewerben um den Sieg. Die Teilnehmer, fast ausschließlich Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht, finanzierten Reise und Unterbringung aus eigenen Mitteln. Aus Deutschland kam eine kleine Delegation Turner, die sich trotz scharfer Verurteilung durch den Deutschen Turnerbund auf den Weg gemacht hatte; unter ihnen war Alfred Flatow, der als erster Deutscher eine Siegermedaille gewann. Bei diesen ersten Spielen musste der Austragungsmodus der Konkurrenzen überhaupt erst festgelegt werden, also die Wettkampfregeln, Ergebnismessungen, Streckenlängen etc. Entsprechend chaotisch ging es in manchen Disziplinen zu. Erster Olympiasieger der Neuzeit wurde der US-Amerikaner James Connolly, der die Konkurrenz im Dreisprung mit 13,71 m gewann.

      Die größte Aufmerksamkeit zog der Marathonlauf auf sich, eine Erfindung der Veranstalter. Seine Länge sollte der Entfernung von Marathon nach Athen entsprechen. Diesen Weg hatte der Sage nach ein Bote zurückgelegt, der die Nachricht vom Sieg der Athener gegen die Übermacht der Perser nach Athen gebracht haben soll. Bei den Olympischen Spielen wurde diese Tat als sportlicher Langstreckenlauf (von etwa 42 km) in der Sommerhitze gleichsam nachgespielt. Es gewann ein Grieche, Spyridon Louis, angeblich ein einfacher Schafhirte. Der erste Heldenmythos der neuzeitlichen Spiele war geboren. In seiner Begeisterung schlug König Georg I. vor, die Spiele in Zukunft ständig in Athen abzuhalten. Damit stand er in direktem Widerspruch zu Coubertins Vorstellung, dass das moderne Olympia wandern sollte, um alle Kontinente zu erobern und neue Allianzen zu schließen.

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