Die Fallen des Multikulturalismus. Cinzia Sciuto
die Meinung vertreten, dass das gesellschaftliche Miteinander und das öffentliche Leben in Übereinstimmung mit dem Moral- und Normensystem einer bestimmten kulturellen und religiösen Weltsicht organisiert sein müsse. Zu dieser letzten Kategorie gehören beispielsweise all jene, die während der Debatten über die europäische Verfassung, unabhängig vom eigenen Glauben, die Meinung vertraten, die »christlichen Wurzeln« müssten in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufgenommen werden. Grundwerte, die in eine Verfassung aufgenommen werden, verfügen über eine gewaltige normative Reichweite. Die christliche Kultur ist mit Sicherheit eine der vielen Wurzeln Europas, aber aus der gesamten Fülle ausgerechnet diesen einen Beitrag auszuwählen, hätte normativen Wert, nicht bloß deskriptiven. Es käme einer Proklamation gleich, dass Europa sich auf christliche Grundwerte berufen müsse.
Die Laizität ist also keinesfalls der Feind des Glaubens. Im Gegenteil, in einer komplexen Gesellschaft ist die Laizität der wertvollste Verbündete des Glaubens, besser der Glaubensrichtungen. Auch die Gläubigen, alle, nicht bloß die Anhänger der großen Konfessionen, profitieren von einem sozialen Kontext, in dem die Religion Privatsache ist und der Staat allen, nicht bloß den verbreitetsten, mächtigsten, am besten organisierten und reichsten Glaubensrichtungen, die Freiheit zusichert, den eigenen Glauben zu zelebrieren oder auch gar keinem Glauben anzuhängen, und zwar indem der Staat, allgemeiner gesprochen, jedem, ganz gleich ob gläubig, andersgläubig oder nicht gläubig, Grundrechte gewährleistet – eine Aufgabe, die, wie noch zu zeigen sein wird, den Einflussbereich des Staates nicht einschränkt, sondern eher erweitert.
Die Religion in die Privatsphäre eines und einer jeden zu verlagern bedeutet keinesfalls, dass die kollektive Dimension des Glaubens unmöglich gemacht wird. Vielmehr gehen damit zwei Dinge einher: Erstens dürfen weder eine bestimmte Religion noch Religionen im Allgemeinen den öffentlichen Raum strukturieren, also den Raum, in dem allgemeine und gemeinsame Regeln gelten, was andernfalls einer Diskriminierung von Andersgläubigen und Nichtgläubigen gleichkäme. Zweitens darf keiner Religion – wie auch keiner politischen, philosophischen und spirituellen Haltung – zugebilligt werden, die Grundrechte der einzelnen Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu verletzen; gemeint sind damit die einzelnen Bürger, ungeachtet ihres Glaubens, einschließlich der Mitglieder der eigenen »Gemeinschaft«.
Die Aufgabe des laizistischen Staates besteht darin, einerseits den öffentlichen Raum und andererseits die Rechte der und des Einzelnen zu schützen. Diese Auslegung der Laizität erfordert es, dass eine Reihe politischer Maßnahmen ergriffen werden, angefangen bei der Schul- und Kulturpolitik, um diese beiden Ziele zu erreichen. Es geht also für den Staat nicht darum, eine bloß gleichgültige Haltung gegenüber den diversen Konfessionen einzunehmen, genauso wenig darum, eine vermittelnde Schiedsrichterrolle zwischen ihnen zu spielen, sondern vielmehr darum, all jene Voraussetzungen zu garantieren – und es sind nicht wenige –, die es jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger ermöglichen, das eigene Leben und den eigenen Wertehorizont autonom zu gestalten.
Laizität wird hier folglich als eine transzendentale Voraussetzung der Demokratie verstanden, nicht als der eine Pol einer Symmetrie, sondern als vorpolitische Notwendigkeit für das zivile Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in der ein Weber’scher »Polytheismus der Werte« herrscht, ein Hilfsmittel, das »einen konstitutionellen Raum [kennzeichnet], der allen Zusammenleben und Austausch ermöglicht«.5
Unbestreitbar muss der oder die Gläubige, wenn er oder sie das Prinzip der Laizität akzeptiert, in einem gewissen Maß die Relativität des eigenen Glaubens anerkennen und auf fast schon kantianische Weise zugestehen, dass der Glaube ein »nur subjektiv zureichend[es …] Fürwahrhalten«6 darstellt, aber, im Gegensatz zum Wissen, nicht für alle unwiderlegbar ist. Dieses Zugeständnis ist vollkommen kompatibel mit einem starken Glauben: »Der Ausdruck des Glaubens ist […] ein Ausdruck der Bescheidenheit in objectiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjectiver.«7 Einen laizistischen Standpunkt einzunehmen bedeutet für eine Gläubige oder einen Gläubigen demnach nicht, den eigenen Glauben in Zweifel ziehen zu müssen, sondern vielmehr das Akzeptieren der Vorstellung, dass er, da er kein objektiv gültiges Fürwahrhalten ist, nicht der Maßstab für das öffentliche Leben sein kann.
Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen
Ein weiteres Missverständnis, das es auszuräumen gilt, erachtet die Laizität als einen rein westlichen Wert und betreibt den in ihrem Namen ausgefochtenen Kampf als eine Art Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen politischer Macht und Religion, zwischen religiöser Gemeinschaft und politischer Gemeinschaft, also die Frage der Laizität ist, ganz im Gegenteil, keine Prärogative des Westens, sondern so etwas wie ein universaler Topos in der Menschheitsgeschichte. Es handelt sich um eine Fragestellung, mit der sich etwa auch die muslimische Gesellschaft seit dem Tode Mohammeds auseinandergesetzt hat.
In seinem Essay L’Islam est-il hostile à la laïcité?8 erklärt Abdou Filali-Ansary, dass der Ablösungsprozess zwischen politischer Macht und religiöser Sphäre nach der ersten Phase des Kalifats in Gang gekommen ist, als das ottomanische Reich sich ausdehnte und ein gewisser Grad an Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens notwendig wurde. Dieser Prozess stellte sich als die wesentliche Trennscheide für die nachfolgenden Aufteilungserscheinungen innerhalb der muslimischen Welt heraus, wobei diese Ablösung von dem Bedürfnis ausging, die religiöse Sphäre vor den Vorstößen der politischen Macht zu schützen. Dieser von Filali-Ansary so benannte »mittelalterliche Kompromiss«9 ermöglichte es nämlich, der Schiedsgewalt der politischen Macht den in der Religion ruhenden Kern von moralischen Regeln zu entziehen. Es handelte sich bei diesem Kompromiss um eine Art Gleichgewicht, das der Zivilgesellschaft einen Grad an Autonomie gegenüber den politischen Autoritäten einräumte, die ihrerseits als legitim anerkannt wurden, solange sie sich nicht an besagtem Kern von Grundprinzipien vergriffen.10
Es handelt sich dabei freilich um eine Entwicklung mit Eigenheiten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Unabhängig von den spezifischen Formen, die dieser Prozess in der muslimischen Welt angenommen hat (und je nach nationalem Kontext mit großen Unterschieden),11 muss für unseren Zusammenhang hervorgehoben werden, dass die komplexen Beziehungen zwischen Religion und politischer Macht sich stets im Zentrum der muslimischen Geschichte befanden. Keinesfalls war das bloß dem Abendland und genauso wenig dem Christentum vorbehalten.
Unabhängig davon fand auch in Europa die Säkularisierung zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise statt. Besondere Differenzen bestanden zwischen den katholisch geprägten und den protestantischen Staaten. Selbst in dem Land, das heute gleichsam emblematisch für Laizität steht, in Frankreich, hat sich der Prozess, der zur Trennung von Staat und Kirche führte, weder schmerzfrei noch besonders schnell vollzogen. »Ein Jahrhundert hat es gedauert«, schreibt Gauchet, »bevor das Prinzip dieser Trennung und die Werte des demokratischen Individualismus bei den Gläubigen ankommen konnten.«12
Auf der Analyseebene muss man allerdings die Säkularisierung, also den historischen Prozess der Trennung von politischer Macht und religiöser Macht – einen Prozess, der wie gesagt mehr oder weniger überall mit unterschiedlichen Ausprägungen je nach soziopolitischem Kontext stattfindet –, von der Laizität als politischem Prinzip abgrenzen. Für Roy sind die Parameter, an denen beide Phänomene gemessen werden können, einerseits die Trennung von Kirche und Staat, woran sich der Grad der Säkularisierung ablesen lässt, und andererseits der Stellenwert, den die Religion in der Gesellschaft innehat, was das Maß an Laizität verdeutlicht.13
Akzeptiert man diese Unterscheidung, kann man sich ohne weiteres einen Staat vorstellen, der säkularisiert ist, aber nicht zur Gänze laizistisch. Als Beispiel sei auf die Vereinigten Staaten von Amerika verwiesen, ein vollkommen säkularisiertes, jedoch kaum laizistisches Land, in dem das öffentliche Leben reichlich von Religion durchsetzt ist, obwohl die Macht nicht bei religiösen Institutionen liegt. Allerdings gibt es Beispiele dieser Art in Hülle und Fülle und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass so gut wie alle europäischen Länder säkularisiert sind, auch wenn nur wenige,