Die Fallen des Multikulturalismus. Cinzia Sciuto

Die Fallen des Multikulturalismus - Cinzia Sciuto


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so lange Zeit ihren Reiz ausgemacht haben. Sie kann sich, zusammengefasst, nicht mehr als Selbstzweck präsentieren«26 – kann der laizistische Staat gerade in einem Kontext, in dem die Konfrontation mit der weltlichen Macht der Kirche wegfällt und der von den unterschiedlichsten religiösen Subjekten bevölkert ist, endlich seine ethisch-politische Vorherrschaft ausüben. Das liegt daran, dass er nicht mehr bloß den einen Pol einer Symmetrie darstellt – wie er es, zumindest in den katholisch geprägten Ländern, über die ganze Geschichte der Säkularisierung hinweg war –, sondern sich als Garant der Gewissensfreiheit und, allgemeiner noch, der Menschenrechte jedes einzelnen Bürgers etabliert. Seine Rolle verändert sich folglich, aber sie verschwindet nicht. Im Gegenteil, sie wird immer wichtiger, da, wie noch zu zeigen sein wird, eine ganze Reihe von alles andere als bloß formalen Pflichten und Verpflichtungen implizit damit einhergeht, jedem einzelnen Bürger die volle Autonomie und Freiheit zu garantieren.

       Konfessionalismus oder Laizität – tertium non datur

      Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto größer wird auch die Notwendigkeit – will man unverrückbar an den Menschenrechten festhalten –, eine rigorose Laizität gegenüber jedweder Glaubensrichtung und spirituellen Option durchzusetzen. Solange in einer Gesellschaft im Wesentlichen nur eine einzige Weltsicht herrscht, kann die Vermengung von öffentlicher Sphäre und Religion verkraftet werden, ohne besondere gesellschaftliche Spannungen hervorzurufen. In dem Maße jedoch, wie eine Gesellschaft anfängt, komplex zu werden, Minderheitenreligionen zunehmend Fuß fassen und handfeste Minderheiten bilden, werden diese beginnen – das ist ebenso zu erwarten wie nachvollziehbar –, eine gleichberechtigte Behandlung gegenüber der Konfession einzufordern, die bislang in einem gegebenen sozialen Kontext die Mehrheit vertrat.

      Das Modell von Laizität, das sich in Beziehung und Abgrenzung zur katholischen Kirche in vielen europäischen Ländern entwickelte, hat sich in Gestalt eines Konkordats27 etabliert, das jedoch nicht länger für eine Situation geeignet ist, in der die religiösen Subjekte sich differenzieren und häufig Strukturen vorweisen, die sich grundsätzlich von jenen der katholischen Kirche unterscheiden. Das System der Verträge mit Religionsgemeinschaften – als Ausweitung des ursprünglichen Konkordats auf andere Konfessionen – ist ein Flicken, der das Loch der religiös zunehmend fragmentierten Gesellschaften nicht länger stopfen kann. Ein Beispiel dafür ist der lange Prozess der UAAR (Unione degli atei e degli agnostici razionalisti, Union der rationalistischen Atheisten und Agnostiker), die bereits 1996 einen eigenen Vertrag mit dem italienischen Staat beantragt und sich dabei auf das Prinzip der Nichtdiskriminierung, der Gleichheit der Bürger, berufen hat. Nachdem der Antrag abgelehnt wurde und auch der Verfassungsgerichtshof die Entscheidung als legitim bestätigte, hat die UAAR beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung eingelegt.

      Angesichts der Vielfalt an Weltsichten, die heute nebeneinanderstehen und miteinander konkurrieren, bleibt einer Gesellschaft, die an einer demokratischen Ordnung festhalten will, keine andere Wahl als eine rigorose Laizität. Nehmen wir das Beispiel des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Es ist mehr als einleuchtend, dass in einer Gesellschaft, die in religiöser Hinsicht relativ homogen ist, der konfessionelle Unterricht28 der mehrheitlich vertretenen Religion keine nennenswerten Spannungen hervorruft – obwohl Religionsunterricht natürlich mit der Rolle der öffentlichen Schule inkompatibel ist und schon aus Prinzip abgelehnt werden müsste.29 Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft und zunehmender Verbreitung von Minderheitenreligionen, die sich dadurch als handfeste Minderheiten etablieren, ist es nur folgerichtig, dass auch sie einen Platz in der öffentlichen Schule einfordern.

      Es liegt auf der Hand, dass es keine ausreichend belastbaren Argumente gegen die Einführung von Religionsunterricht anderer Konfessionen an Schulen gibt, solange konfessioneller Unterricht in irgendeiner Form in der öffentlichen Schule vorgesehen ist. Vielmehr würde eine dahingehende Verweigerung einen deutlichen und untragbaren Verstoß gegen das Prinzip des Diskriminierungsverbots30 darstellen (was in der Alltagsrealität auch heute bereits so ist).

      Eine Situation dieser Art kann innerhalb des aktuellen Paradigmas nicht aufgelöst werden. Will man nicht Parameter wie die Bedeutung und die Macht einer bestimmten Gemeinschaft anlegen, um zu entscheiden, welche Religion in einer öffentlichen Schule unterrichtet werden darf und welche nicht – was offensichtlich unter der Würde einer demokratischen und liberalen Gesellschaft wäre, auch wenn genau das de facto geschieht –, müsste man unweigerlich in Kauf nehmen, dass die unterschiedlichsten Religionen in den Schulen unterrichtet werden, weil das Recht jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers, ob Katholik, Muslim, Hindu, Atheist, Pastafari31 oder sogar Satanist32, genauso viel gilt und gelten muss wie das aller anderen.

      Kurz gesagt, entweder oder, entweder ist man ein konfessionsgebundenes Land, das jedes Recht hat, eine Staatsreligion33 an öffentlichen Schulen vorzuschreiben, oder man ist ein laizistisches Land, das aus dem gebotenen Respekt – nicht den Religionsgemeinschaften gegenüber, sondern vor jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger – die Religion, das heißt jede Religion, von der öffentlichen Schule fernhält. Tertium non datur.

       Laizität als Selbstbestimmung

      Betrachtet man Laizität in diesem Sinne, ist sie eine mentale Haltung, die jedwedes Autoritätsprinzip ablehnt, nicht bloß das des Religiösen. Laizistisch sein heißt, keine Form von Tradition ins Feld zu führen – ob religiös oder nicht ist für Laizisten vollkommen irrelevant –, um damit die Einschränkung, wenn nicht sogar die Verletzung der Autonomie und Freiheit irgendeines Menschen zu rechtfertigen. Für Laizisten steht jede einzelne Person im Mittelpunkt, jede eine individuelle Trägerin der Menschlichkeit, die »niemals bloß als Mittel« verwendet werden kann, sondern »jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst«,34 unter Wahrung ihrer vollen Autonomie.

      Laizität ist demnach die Fortsetzung der Aufklärung, wie sie Immanuel Kant in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« vorausgesagt hat: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«35

      Laizisten, ob gläubig oder nicht, erkennen das Autoritätsprinzip im Leben auf dieser Erde nicht an, sondern streben auf den Spuren Kants beständig danach, aus der Unmündigkeit auszutreten, in der sie sich wiederfinden, und auf eigenen Beinen zu stehen. Dieses große aufklärerische Streben hat viele Fortschritte gemacht, seit der Vater der kritischen Philosophie es formulierte, und stand auch 1944 noch im Mittelpunkt der großen Hoffnungen, die die Autoren des Manifests von Ventotene zum Ausdruck brachten, als sie darin schrieben: »Gegen den autoritären Dogmatismus hat sich der Wert des kritischen Verstandes als fortwährend erkannt. Jede Behauptung musste vernunftgemäß erscheinen oder aber verschwinden. Der Methodik dieser unbefangenen Geisteshaltung verdankt unsere Gesellschaft die wichtigsten Errungenschaften auf jedem Gebiet.«36 Die Ablehnung des Autoritätsprinzips, sei es religiöser oder anderer Natur, ist eine der Voraussetzungen für Gleichheit. Es ist vollkommen irrelevant, was die Grundlage oder die Rechtfertigung einer Meinung, einer Tradition oder eines Brauchs sein mag; was für Laizisten zählt, ist die Kompatibilität mit der Demokratie, mit der Freiheit jedes einzelnen Menschen, mit den Menschenrechten. Keine Meinung, nicht einmal eine religiöse Überzeugung, darf sich diesem kritischen Prüfstein entziehen.

      In diesem Sinne hat der Staat eine enorme Verantwortung, und eine bloß indifferente Haltung gegenüber den verschiedenen Religionen ist nicht ausreichend. Der Philosoph Charles-Bernard Renouvier schrieb im 19. Jahrhundert: »Die Überlegenheit des Staates ist notwendig, seine Verantwortung, gemessen an der der Kirche oder einer Gemeinschaft, ist universaler Natur. […] Obwohl es ihm nicht zusteht, diese Doktrinen


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