Unglaubliche Reisen. David Barrie
Gyroskope. Ein Computer, der die Daten dieser Trägheitssensoren kombiniert, kann jedes Manöver des U-Bootes verfolgen und zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine genaue Positionsbestimmung liefern. Allerdings muss die Erdrotation berücksichtigt und das System von Zeit zu Zeit aktualisiert werden, weil es sonst allmählich abweicht. Dieses System, das als Trägheitsnavigation bezeichnet wird, kommt inzwischen häufig zum Einsatz, etwa bei Flugzeugen, Raketen und sogar Raumfahrzeugen.
Kurioserweise verwenden wir Menschen, und auch viele andere Wirbeltiere, einen ähnlichen Mechanismus: das Gleichgewichtssystem. Unser Innenohr kann Beschleunigungen wahrnehmen, ähnlich wie die Gyroskope an Bord eines U-Bootes. Allerdings funktioniert das menschliche Ohr auf andere Weise. Winzige Steinchen – sogenannte Otolithen – im Inneren der halbkreisförmigen Kanäle üben Druck auf reizempfindliche Härchen aus, die ihre Signale an das Gehirn weiterleiten, welches dann ermitteln kann, wie schnell und in welche Richtung sich der Körper bewegt. Das ist aber noch nicht alles. Das Gehirn erhält gleichzeitig wertvolle Rückmeldung von den Gelenken und Muskeln. Zählt man beispielsweise, wie viele Schritte man gegangen ist, kann man die zurückgelegte Strecke schätzen; und wenn man das Gefälle des Bodens und die erforderliche Anstrengung spürt, lässt sich beurteilen, ob man bergauf oder bergab geht.
Indem wir Informationen dieser verschiedenen »Selbstbewegungshinweise«4 kombinieren, können wir im Prinzip jederzeit nachverfolgen, wo wir gerade sind. Doch in der Praxis funktioniert dieses System leider nicht so gut, wie die folgende Geschichte verdeutlicht.
Nach einem Schneesturm sieht die Welt völlig anders aus. Viele der Landmarken, auf die sich der Reisende normalerweise verlässt, sind unsichtbar, und ohne ausreichende Ortskenntnis – beziehungsweise die Fähigkeiten eines Inuit-Jägers – kann er schnell in Schwierigkeiten geraten.
Genau diese Erfahrung machte der berühmte amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835–1910), als er Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Gefährten auf dem Weg in die Grenzstadt Carson City in Nevada war.
In seinem halb autobiografischen Reisebuch Durch Dick und Dünn schildert Twain, wie er und seine Begleiter, darunter ein besserwisserischer Preuße namens Ollendorff und ein gewisser Ballou, beinahe ihr eisiges Grab gefunden hätten. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die Landstraße, und aufgrund der schlechten Sicht konnten sich die Reisenden nicht an der fernen Bergkette orientieren:
Die Sache sah bedenklich aus, doch Ollendorff erklärte, sein Instinkt reagiere so empfindsam wie ein Kompass und er fände schon den Weg nach Carson City, und zwar »Luftlinie«, ohne davon abzuweichen. Er sagte, wenn er einen einzigen Teilstrich von der richtigen Richtung abwiche, würde sein Instinkt ihm zusetzen wie ein empörtes Gewissen. Glücklich und zufrieden schlossen wir uns also seiner Führung an. Eine halbe Stunde lang tappten wir reichlich vorsichtig dahin, stießen dann aber auf eine frische Fährte, und Ollendorff rief stolz aus: »Hab doch gewusst, mein Instinkt ist so sicher wie ein Kompass, Jungs! Da sind wir genau in der Spur von Leuten, die uns den Weg ausfindig gemacht haben, ohne dass wir uns selber zu bemühen brauchen. Beeilen wir uns, damit wir uns ihnen anschließen können.«
Twain und seine Gefährten ließen ihre Pferde traben. Da die Spuren ihrer Vorgänger immer deutlicher wurden, folgerten sie, dass sie jene bald einholen mussten. Eine Stunde später sahen die Spuren »noch neuer und frischer« aus, und die Zahl der Reisenden vor ihnen schien erstaunlicherweise stetig zuzunehmen:
Wir fragten uns, wie denn ein solch großer Trupp dazu komme, zu so einer Zeit und in so einer Einsamkeit unterwegs zu sein. Einer von uns meinte, vielleicht sei es ein Trupp Soldaten aus dem Fort, und diese Lösung nahmen wir dann an und trabten noch ein bisschen schneller voran, denn sie konnten jetzt nicht mehr weit ab sein. Doch es wurden immer mehr Spuren, und wir dachten langsam, die Rotte Soldaten vermehre sich auf geheimnisvolle Weise zu einem Regiment – Ballou meinte, sie wäre bereits auf fünfhundert Mann angewachsen! Auf einmal hielt er sein Pferd an und sagte: »Mann, das sind ja unsere eigenen Spuren, und wir sind tatsächlich über zwei Stunden hier draußen in dieser blinden Wüste immerzu rundum im Kreis geritten. Verdammt und dreimal zugenäht, das ist glattweg hydraulisch.«5
In der Literatur und in volkstümlichen Überlieferungen findet man viele solcher Geschichten, die durch wissenschaftliche Studien tatsächlich bestätigt werden, wenngleich die Ursachen dieses Phänomens recht umstritten sind.
Bereits in den 1920er-Jahren argumentierte ein Forscher namens A. A. Schaeffer, der Mensch habe eine seltsame, angeborene Tendenz zur Spiralbewegung, die automatisch einsetze, wenn er nicht mehr sehen könne, wohin er geht. Das führe dazu, so Schaeffer, dass wir uns »im Kreis bewegen«.6 Andere dagegen behaupteten, sie hätten Beweise dafür, dass unterschiedliche Beinlängen, Änderungen der Körperhaltung, Ablenkungen oder Fehler beim Platzieren der Füße (um nur ein paar Beispiele zu nennen) dazu führen könnten, dass unser inneres Navigationssystem versagt.
Erst in jüngerer Zeit führte Jan Souman ein Experiment durch, bei dem er seine Probanden aufforderte, mit verbundenen Augen über ein großes ebenes Flugfeld zu gehen. Es gab keinerlei Geräusche, an denen sie sich hätten orientieren können. Souman fand heraus, dass die Versuchsteilnehmer keinen geraden Kurs beibehalten konnten – selbst über kurze Entfernungen. Sie folgten gewundenen und scheinbar willkürlichen Pfaden und bewegten sich häufig im Kreis. Am Ende zeigte sich, dass im Durchschnitt nicht mehr als etwa hundert Meter vom Ausgangspunkt zurückgelegt wurden.7
Soweit Souman feststellen konnte, wiesen diese Fehler keinerlei Muster auf, und es deutete auch nichts darauf hin, dass körperliche Merkmale wie unterschiedlich lange oder unterschiedlich starke Beine dafür verantwortlich waren. Ein anderer Forscher hatte zuvor untersucht, wie lange Probanden einen geraden Kurs auf ein Ziel hin beibehalten konnten, nachdem dieses plötzlich verdeckt wurde; sie schafften es nur rund acht Sekunden lang.8
Selbst wenn gewisse visuelle Informationen vorliegen, können wir nur für begrenzte Zeit einem direkten Kurs folgen – es sei denn, die Sonne oder der Mond scheint. Souman führte einen Test mit Personen durch, die sich ohne Augenbinden in zwei extrem unterschiedlichen Umgebungen ohne nützliche Orientierungspunkte bewegten: Sie marschierten durch einen deutschen Wald beziehungsweise die tunesische Wüste. Die Ergebnisse waren interessanterweise nicht einheitlich.
Bei bedecktem Himmel fiel es sämtlichen Versuchspersonen sehr schwer, geradeaus zu gehen, aber wenn die Sonne sichtbar war, schlugen sie sich viel besser und folgten oft über erstaunlich lange Distanzen einem direkten Kurs, selbst in unübersichtlichem und dichtem Wald. Auch ein Proband, der nachts in der tunesischen Wüste losmarschierte, schnitt recht gut ab, solange er den Mond sehen konnte; verschwand dieser jedoch hinter Wolken, machte der Versuchsteilnehmer mehrere scharfe Kurven und kehrte schließlich auf demselben Weg zurück.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die meisten Menschen am Licht der Sonne oder des Mondes orientieren können, indem sie eine einfache Form des Zeitausgleichs anwenden. Doch es gibt einen guten Grund für unsere Unfähigkeit, allein anhand von inneren Selbstbewegungssignalen einen konstanten Kurs beizubehalten: Es schleichen sich unweigerlich systematische Irrtümer ein, die sich vielfach anhäufen. Eine Richtungsverzerrung tritt daher irgendwann zwangsläufig auf. Wenn ein Lebewesen (jedweder Spezies) also auf dem richtigen Pfad bleiben will, muss es auf äußere Kontrollfaktoren zurückgreifen können, sei es in Form von Landmarken oder einer Art von Kompass. Ist dies nicht der Fall, gleicht sein Weg früher oder später einer Spirale.9
Womöglich hatte Schaeffer also doch recht – vielleicht besitzen wir tatsächlich eine angeborene Neigung, uns in Spiralen zu bewegen.
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Im Jahr 2009 verfolgte man den Flug eines Landvogels namens Pfuhlschnepfe, der ohne Unterbrechung in nur etwas mehr als acht Tagen den Pazifik überquerte, von Alaska bis Neuseeland – eine Distanz von 11 680 Kilometern.10 Da mehrere andere Vögel nur geringfügig kürzere Routen bewältigten, war dies eindeutig kein außergewöhnlicher Einzelfall. Doch dass ein Vogel, der mit den Flügeln schlagen muss, um Auftrieb zu gewinnen – im Gegensatz zum gleitenden Wanderalbatros –, so weit wandert, ist beinahe unvorstellbar und sehr beeindruckend; zumal Pfuhlschnepfen nicht auf dem Wasser landen