Unglaubliche Reisen. David Barrie
über Lebewesen wie Krebstiere und Insekten wissen, um uns unserer Urteile und Einschätzungen in dieser Frage sicher sein zu können.
Einige Leser sind vielleicht der Überzeugung, dass es niemals und unter keinen Umständen gerechtfertigt sein kann, Tieren um der Wissenschaft willen Leid zuzufügen. Aus ethischer Sicht kann man gewiss dafür plädieren, alle schädlichen oder tödlichen Tierversuche zu verbieten, allerdings vermute ich, dass die wenigsten Menschen bereit wären, mit den Konsequenzen zu leben – besonders wenn es um medizinische Forschung geht. Es ist jedoch tröstlich zu wissen, dass die Zahl von Tieren, die für Experimente herangezogen werden, in den vergangenen Jahren (zumindest in Großbritannien) zurückgegangen ist.2
Die ethischen Aspekte wissenschaftlicher Experimente an und mit Tieren sind längst nicht ausdiskutiert, und ich gebe keineswegs vor, alle Antworten parat zu haben. Es wäre aber sicherlich falsch, für Forscher höhere Standards anzulegen als für alle anderen Menschen.
1. KAPITEL
Mr. Steadman und der Monarchfalter
Als ich sieben Jahre alt war, trat ein bemerkenswerter Lehrer in mein Leben. Er unterrichtete Mathematik, hielt sich aber kaum an den Lehrplan und achtete auch nicht auf das Alter seiner Schüler. Eine Unterrichtsstunde bei Mr. Steadman, die mit dem Satz des Pythagoras begann, konnte leicht zur Topologie abschweifen und schließlich ins Kaninchenloch der nicht euklidischen Geometrie abtauchen. Diese Themen faszinierten ihn, und zweifellos glaubte er, es sei gut, unseren Horizont zu erweitern.
Mr. Steadman war nicht nur Mathematiker; er kannte sich auch mit Insekten aus. Während der Sommermonate hing in meiner Schule eine Mottenfalle, die er angebracht hatte. Ich freute mich damals auf jeden neuen Schultag, denn ich durfte dabei sein, wenn er vor Beginn des Unterrichts die Beute der Nacht begutachtete.
Meine Schule befand sich am Rand des New-Forest-Nationalparks im Süden Englands, eines der besten Habitate für Insekten in Großbritannien. Oft ruhten fünfzig oder sogar hundert Falter in der Box, in die sie nachts durch ein helles Licht gelockt worden waren. Einige Motten und Schmetterlinge, so lernte ich, waren nicht heimisch, sondern lediglich Sommergäste. Ein häufiger Fang war ein Nachtfalter namens Gammaeule. Wie wir heute wissen, wandert eine große Anzahl dieser Eulenfalter jeden Sommer vom Mittelmeerraum zur Brut nach Nordeuropa. Warum diese Insekten solch lange Reisen unternehmen und wie sie ihren Weg finden, war damals ein absolutes Rätsel.
Schon bald war ich von Schmetterlingen besessen. Zum Leidwesen meiner Mutter füllte sich mein Zimmer mit Netzen, Sammelboxen, Schaurahmen und großen Kästen, in denen ich Raupen züchtete. Manchmal lag ich nachts wach und hörte, wie meine unentwegt fressenden Gefangenen vor sich hin knabberten und ihre winzigen Exkremente leise auf die Blätter ihrer Futterpflanzen platschten. Wenn sie satt waren, verwandelten sie sich in Puppen beziehungsweise Larven; ihre fetten Körper lösten sich auf und wurden zu einer alchemischen Suppe, aus der sich wie durch Magie die ausgewachsenen Falter zusammenfügten. Wenn man zusah, wie sie aus ihren harten, trockenen Kokons ausbrachen, langsam ihre feuchten, zerknitterten Flügel ausbreiteten und schließlich zum Flug ansetzten, wurde man Zeuge eines Naturwunders, das trotz des bescheidenen Maßstabs nicht minder erstaunlich war.
Meine leidgeprüfte Mutter fuhr mit mir nach London zum Naturhistorischen Museum, wo uns ein freundlicher junger Kurator einen Blick hinter die Kulissen gewährte. Er schloss eine nicht gekennzeichnete Tür auf, führte uns in einen riesigen Raum voller Mahagonivitrinen mit Millionen von Nachtfaltern und Schmetterlingen aus aller Welt und zeigte uns schließlich einen großen exotischen Schmetterling, der ganz vereinzelt auch in England auftauchte. Er stammte nicht aus Europa oder gar Afrika, sondern aus Nordamerika. Selbst wenn ihm auf seinem Weg über den Nordatlantik die vorherrschenden Westwinde zu Hilfe kamen oder sich eine Mitfahrgelegenheit auf einem Schiff anbot, war dies eine außergewöhnliche Leistung.
Die Flügel dieses Schmetterlings können eine Spannweite von bis zu zwölf Zentimetern aufweisen und gleichen einem modernistischen Buntglasfenster. Zarte schwarze Adern breiten sich über einen hellen orangefarbenen Grund aus, der leuchtet, als würde die Sonne durchscheinen. Die dunklen Linien münden in einen breiteren schwarzen Rand, der wie der Kopf des Tieres mit schneeweißen Punkten getüpfelt ist. Das Gewand dieses Schmetterlings mag farbenfroh anmuten, doch die knallige Farbgebung ist ein Warnsignal an Fressfeinde – es könnte ein Fehler sein, voreilig zuzuschnappen. Das Tier steckt möglicherweise voller Gifte, die es in der Raupenphase über das Futter, die Seidenpflanze, aufnimmt. Jeder Nordamerikaner kennt diesen Schmetterling: den Monarchfalter.
Ich erzählte Mr. Steadman von meiner Begeisterung für diese Spezies, woraufhin er ohne großes Aufheben bei einem Lieferanten eine Monarchfalterlarve bestellte. Als ich das Päckchen öffnete, erkannte ich sofort, was sich darin verbarg: mein ureigener Danaus plexippus.
Die Puppe, die vielleicht nur zwei oder drei Zentimeter lang war, glich dem Kunstwerk eines Juweliers. Umhüllt von einem glänzenden jadegrünen Panzer lag sie in ihrem Nest aus Baumwollwatte, wie ein miniaturhafter chinesischer Kaiser, der auf seine Wiedergeburt wartete. Vage konnte ich die Form der Flügel und die Teile dessen erkennen, was später einmal den Körper des ausgewachsenen Insekts bilden sollte. Eine Linie winziger, goldglänzender Punkte schimmerte in einem Halbkreis um den dicksten Teil der Puppe, die hier und da mit weiteren Goldflecken gesprenkelt war. Ich bewunderte diese Larve, die mir sogar noch schöner erschien als das prächtige ausgewachsene Tier; aber sie wirkte auch verstörend, irgendwie fremdartig. Wie konnten die Tiefen des Weltalls größere Wunder bergen, wenn doch unsere eigene Welt von solch herrlichen Kuriositäten erfüllt war?
Den Schmetterling habe ich nicht schlüpfen sehen; die Puppe ging ein, bevor sie ausreifte. Doch der Monarchfalter und seine ungewöhnliche Lebensgeschichte hatten mich längst in ihren Bann gezogen.
Viele Jahre später sah ich zum ersten Mal einen lebenden Monarchfalter – in den Sanddünen von Amagansett, unweit von Montauk an der östlichen Spitze von Long Island. Es war Ende August, und dieser Schmetterling flatterte, zusammen mit Millionen Artgenossen, langsam nach Südwesten. Sein Flug glich einem unbeschwerten Tanz. Ein paar lässige Flügelschläge verliehen ihm Auftrieb, dann segelte er – während er langsam an Höhe verlor – ein paar Sekunden lang durch die Luft, um schließlich wieder emporzusteigen. Aber wohin war er unterwegs und wie um alles in der Welt fand er seinen Weg?
Meine Suche nach Antworten auf diese Fragen brachte mich letztlich dazu, dieses Buch zu schreiben. Ich wusste, dass ich unterwegs Überraschungen erleben würde, aber ich ahnte nicht, wie zahlreich und vielfältig diese sein sollten.
Die frühesten Wegfinder
Als ich mit meinen Recherchen begann, dachte ich nur an Lebewesen, die ich sehen konnte – etwa Insekten, Vögel, Reptilien, Ratten, Menschen –, doch die ersten Lebensformen, die sich auf unserem Planeten entwickelten, waren winzig klein und Pioniere der Tiernavigation.
Die Erde entstand vor ungefähr 4,56 Milliarden Jahren als Zufallsprodukt bei der Verdichtung von Asteroiden, Gas und Staub; diese Einzelteile wurden durch die eigene Schwerkraft zusammengepresst. Damals war die Erde ein äußerst ungemütlicher Ort: Ihre gesamte Oberfläche war von heißem, flüssigem Gestein bedeckt. Die ersten Kontinente bildeten sich, als dieses Meer aus Magma vor circa 4,5 Milliarden Jahren langsam abkühlte und erstarrte, doch es gab noch keine Ozeane und auch keine Luft.
Über Hunderte Millionen Jahre hinweg wurde der junge Planet von weiteren Asteroiden bombardiert, aber diese Einschläge waren nicht nur zerstörerisch. Sie lieferten die chemischen Zutaten, welche die allerersten Lebensformen und auch Wasser entstehen ließen.1 Vor etwa 3,9 Milliarden Jahren beruhigte sich die Erde, und in den Tiefen der ersten Ozeane entwickelten sich einfache Lebensformen um hydrothermale Spalten im Meeresboden, aus denen extrem heißes, stark mineralisiertes Wasser strömte.2 Zu diesen Lebensformen gehörten die allerersten Bakterien.
Heute bringen wir diese einzelligen Organismen zwar meist mit Krankheiten in Verbindung, doch die Mehrzahl der