Unglaubliche Reisen. David Barrie
Gleiche gilt auch für die Aborigines im heutigen Australien. Sie kamen vor ungefähr 50 000 Jahren auf dem Seeweg dorthin und entwickelten, wie die Inuit, ein feines Orientierungsgeschick, das sich hauptsächlich auf Landmarken stützt. Anhand langer, komplexer Gesänge können sie weitläufigen Routen durch das Outback folgen.
Diese Gesänge helfen den Aborigines dabei, Naturmerkmale entlang ihrer Pfade wiederzuerkennen, indem sie mythologische Bilder aus der »Traumzeit« wachrufen. Ein kompetenter (europäischer) Beobachter hat das gekonnt umschrieben: Die Orientierungsmethoden der Aborigines beruhen auf dem »Glauben an eine spirituelle Kraft, die materielle Gegenstände erfasst und ihnen eine zeitlose Bestimmung verleiht, die dem Menschen das Gefühl gibt, irgendwo hinzugehören«.5
Die engen Beziehungen der Aborigines und der Inuit zu ihren heimischen Landschaften werden Stadtbewohner der westlichen Welt wohl nie begreifen können. Doch unsere eigenen entfernten Vorfahren dürften ähnliche Orientierungsmethoden angewandt haben, und es ist ein trauriger Gedanke, dass diese ein für alle Mal in Vergessenheit geraten sind. Daher ist es umso wichtiger, das Wissen jener, die noch über solch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, zu bewahren.
Einige Menschen sprechen Sprachen, die sie dazu zwingen, ständig zu überdenken, in welche Richtung sie gehen oder sehen. Die australischen Ureinwohner des Stammes Guugu Yimithirr in Queensland – von denen James Cook (1728–1799) offenbar das Wort »Känguru« lernte – benutzen niemals Begriffe wie »links« oder »rechts«. Sie verweisen ausschließlich auf die Himmelsrichtungen. Der Linguist Guy Deutscher beschreibt ihre Sprache wie folgt:
Wenn Sprecher des Guugu Yimithirr möchten, dass jemand in einem Auto zur Seite rückt, um Platz zu machen, dann sagen sie naga-naga manaayi, was »rück ein bisschen nach Osten« bedeutet. […] Als man älteren Stammesmitgliedern auf einem Fernseher einen kurzen Stummfilm zeigte und sie dann aufforderte, die Bewegungen der Protagonisten zu beschreiben, hingen ihre Antworten davon ab, wie der Fernseher gestanden hatte, als sie den Film sahen. Wenn er nach Norden gerichtet war und ein Mann auf dem Bildschirm näher zu kommen schien, sagten die älteren Männer, der Mann »geht nach Norden«. […] Wenn Sie ein Buch lesen und dabei nach Norden blicken und ein Guugu-Yimithirr-Sprecher Sie auffordert vorzublättern, dann wird er sagen »geh weiter nach Osten«; denn die Seiten werden von Osten nach Westen umgeblättert.6
Der Sprachwissenschaftler erklärt weiter:
Wenn Sie Ihre Position kennen müssen, um auch nur die einfachsten Dinge zu verstehen, welche die Leute in Ihrer Umgebung sagen, dann werden Sie die Gewohnheit entwickeln, in jeder einzelnen Sekunde Ihres Lebens die Himmelsrichtungen zu berechnen und sich an sie zu erinnern. Und da diese geistige Gewohnheit schon fast vom Säuglingsalter eingeprägt wird, wird sie dann bald zu einer zweiten Natur werden, mühelos und unbewusst.7
Diese sprachlichen Eigenheiten spiegeln wohl die zentrale Rolle wider, die Orientierung im Alltag der Guugu Yimithirr einnimmt. Für ihr Überleben war es wahrscheinlich unerlässlich, sich ständig der eigenen räumlichen Ausrichtung bewusst zu sein, denn dieses Bewusstsein war und ist in der Struktur ihrer Sprache verankert.
Die sechsbeinigen Geheimnisse eines provenzalischen Gartens
Ich hege ein Faible für den französischen Insektenforscher Jean-Henri Fabre (1823–1915), seit ich seine Bücher entdeckte. Sein Hauptwerk, Souvenirs Entomologiques (Entomologische Erinnerungen, auch Erinnerungen eines Insektenforschers), dessen erster Teil 1879 erschien, wurde ein höchst ungewöhnliches verlegerisches Phänomen – ein Bestseller ausschließlich über Gliederfüßer. Fabre verfasste nicht nur einige der lyrischsten und kurzweiligsten Schilderungen des Insektenlebens, die je geschrieben wurden, sondern leitete auch bahnbrechende Studien zur Tiernavigation.
Fabre war alles andere als ein konventioneller Gelehrter, aber seine bemerkenswerte Beobachtungsgabe war gepaart mit der Neugier, Geduld und Findigkeit, die einen wahren Wissenschaftler kennzeichnen. Den Großteil seines Lebens mühte er sich damit ab, eine vielköpfige Familie mit seinem Lehrergehalt durchzubringen, während er auf Korsika und in verschiedenen Gegenden der Provence arbeitete. Es heißt zwar oft, Fabre sei Autodidakt gewesen, doch in Wahrheit unterhielt er enge Verbindungen zur Gelehrtenwelt und schloss sein Studium sogar mit einer Promotion ab. Schließlich verlegte er sich darauf, Schul- und Lehrbücher zu schreiben, um sein Einkommen aufzubessern – ein Unterfangen, das sich als einträglich erwies und es ihm erlaubte, die Lehrtätigkeit aufzugeben und sich ganz seinen Forschungsarbeiten zu widmen.8
Fabre war fasziniert von den Insekten und Spinnen, die damals auf den Feldern und Hügeln der Provence bestimmt noch viel zahlreicher vertreten waren als heute. Ganz besonders begeisterte er sich für Grabwespen. Diese Parasiten legen ihre Eier in Erdlöchern ab und versorgen die daraus schlüpfenden Larven, indem sie gelähmte Beutetiere mit einlagern, von denen sich der Nachwuchs nach Belieben ernähren kann – eine makabre lebende Speisekammer. Fabre beobachtete, dass die Wespen oft überraschend lange Strecken zurücklegten, wenn sie ihre Nester mit Proviant ausstatteten; erstaunlicherweise fanden sie immer wieder zurück, auch wenn er sie etliche Kilometer weit entfernt aussetzte.
Aufgrund anderer Beobachtungen wusste Fabre, dass die beiden Fühler der Wespe eine wichtige Rolle bei ihrer Nahrungssuche spielten. Also fragte er sich, ob sich ihr Orientierungsgeschick ebenfalls auf diese Sinnesorgane stützte. Und so trennte Fabre kurzerhand die Fühler einiger Wespen ab, um zu sehen, was nun passieren würde. Überrascht stellte er fest, dass die drastische Maßnahme keinerlei Auswirkung auf die Zielfindungsfähigkeit der Wespen hatte; allerdings dürften die bedauerlichen Kreaturen hungrig geblieben sein.9
Fabre konnte sich darauf keinen Reim machen, und so verlagerte er das Hauptaugenmerk seiner Forschungen auf die aggressiven Roten Gartenameisen, die auf seinem großen Grundstück lebten; diese Spezies raubt die Nester ihrer schwarzen Verwandten aus und stiehlt deren Nachwuchs.10 Die Roten Gartenameisen waren viel folgsamere Probanden und konnten auf den Streifzügen außerhalb ihrer Nester leichter beobachtet werden. Mit der Hilfe seiner sechsjährigen Enkelin Lucie führte Fabre eine Reihe einfacher, aber bahnbrechender Experimente durch.
Zunächst stand Lucie mit bewundernswertem Pflichteifer Wache am Nest der Roten Gartenameisen und wartete geduldig darauf, bis ein Überfallkommando ausrückte. Dann verfolgte sie die Kolonne und markierte deren Weg mit kleinen weißen Kieselsteinen, genau wie der kleine Däumling im gleichnamigen Märchen, wie Fabre bemerkte.11 Sobald die roten Ameisen ein Nest der schwarzen Ameisen zum Plündern gefunden hatten, lief Lucie zu ihrem Großvater und alarmierte ihn.
Fabre wusste, dass Rote Gartenameisen nach ihren Streifzügen – wenn sie ihre Beute heimbrachten – immer auf demselben Weg zurückkehrten, und er vermutete, sie ließen sich dabei von irgendeiner Art Duftspur leiten. Um diese These zu überprüfen, versuchte er mit verschiedenen Mitteln, den Geruch, dem die Ameisen möglicherweise folgten, zu tilgen oder zu überdecken. Zuerst fegte er den Boden gründlich ab. Die zielstrebigen Ameisen wurden jedoch nur kurzzeitig aufgehalten und fanden ihren Weg wieder, entweder indem sie über die abgefegten Flächen vorrückten oder diese umgingen.
Fabre vermutete, dass gewisse Spuren dem Fegen standgehalten hatten, und so richtete er einen Wasserschlauch auf den Pfad, in der Hoffnung, jeden eventuell noch verbliebenen Geruch wegzuspülen. Aber auch dieses Mal schafften es die Ameisen, an ihr Ziel zu gelangen. Das Gleiche geschah, als Fabre auf einen Teil des Weges Menthol träufelte, um die hypothetische Duftspur zu überdecken.
Nun kam Fabre der Gedanke, dass sich die Roten Gartenameisen – obwohl sie offenkundig kurzsichtig waren – vielleicht auf visuelle Hinweise stützten, anstatt ihren Weg anhand von Gerüchen zurückzuverfolgen. Möglicherweise prägten sie sich irgendwelche markanten Punkte ein. Um diese Vermutung zu prüfen, veränderte Fabre das Aussehen des Ameisenpfades, indem er zunächst Zeitungsblätter und später eine Schicht gelben Sandes darüberlegte – was sich farblich von der umgebenden grauen Erde klar unterschied. Diese Hindernisse bereiteten den Ameisen weitaus größere Schwierigkeiten, doch sie fanden trotzdem zu ihrem Nest zurück.
Fabre stellte fest, dass die Ameisen ihren