Das Haus des Meisters. Jochen Nöller

Das Haus des Meisters - Jochen Nöller


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würde nicht lange zwischen ihm und seiner Freiheit stehen.

      Das schwor er sich und schloss die Fahrgasttür. Damit ließ er sein altes Leben hinter sich und bereitete sich auf die Zukunft vor.

      Unbekannt

       Das Zimmer des Sklaven

      Der Meister saß auf der Rückbank und beobachtete ihn aufmerksam. Offenbar wollte er seine neue Errungenschaft testen. Langsam kam der Sklave der stillen Aufforderung nach und näherte sich dem Knaben unterwürfig. Innerlich bereitete er sich darauf vor, seinem Herrn zu Diensten zu sein und rettete sich in seine Gedankenwelt. Hier konnten die Menschen ihn nicht verletzen. Hier war er sicher, egal, was er tun musste oder was sie mit ihm anstellten. Er wusste, dass sein Blick immer etwas glasig wurde, wenn er sich hierhin fluchtete. Zu oft hatte ihn Ursay schon wegen seiner offensichtlichen gedanklichen Abwesenheit geschlagen. Aber er musste sich abschotten, sonst wäre er längst zerbrochen.

      Doch kam es anders als erwartet. Ohne auf das Wesen zu achten, griff der Junge zu einer Schalttafel und sprach laut: »Zurück nach Hause.«

      Der Boden begann zu vibrieren und der Sklave konnte spüren, wie sie sich in Bewegung setzten. Nachdem die Kraft der Beschleunigung nachließ, erhob sich der Mensch. Der Innenraum des Wagens war zwar geräumig, aber aufrecht stehen konnte der Mensch nicht.

      Erneut griff der Junge nach den vielen verschiedenen Schaltern und betätigte einen davon. Ein mechanisches Geräusch erklang und der Rücksitz klappte langsam um. Zum Vorschein kamen die Otter, die achtlos in den kleinen Kofferraum gestopft worden waren. Da die beiden sich nicht bewegten, glaubte der Tiger, dass sie ohnmächtig geworden waren. Mit nur einem Blick konnte er auch ihren erbärmlichen Zustand erkennen. Der Primär des Händlers hatte ganze Arbeit geleistet.

      Irritiert wartete der junge Sklave auf irgendeine Anweisung seines Herrn. Es kam keine. Ohne auf ihn zu achten, begann der Mensch die Otter vorsichtig aus dem Kofferraum zu ziehen.

      Was hat dieses Monster nur vor, fragte sich das Wesen und sah einen Moment zu. Der junge Herr war abgelenkt, das war seine Chance ihn von hinten anzugreifen. Nur ein kleiner Schnitt mit seinen Krallen und er wäre frei. Sein Schwanz zuckte angriffslustig und er spreizte die Krallen.

      »Würdest du mir bitte etwas helfen?«, fragte der Junge und schaute auf. Schnell neigte der Sklave den Kopf und hoffte inständig, sich nicht verraten zu haben.

      »Wie der Meister wünscht«, flötete er und half dem Menschen, die Otter auf die Sitzreihen rechts und links zu legen. Von nahem betrachtet, war ihr Zustand noch schlimmer als erwartet und ihr Blut besudelte die Polster.

      Nach getaner Arbeit zog der Knabe einen Verbandskasten unter einem der Sitze hervor. Bewaffnet mit Salbe und Verbänden ging er vor einem der Brüder in die Hocke und begann, die vielen Verletzungen zu versorgen. Irritiert sah der Tiger diesem merkwürdigen Verhalten zu. Was hatte er nur vor? Dann kam ihm die Erleuchtung. Der Junge wollte die Brüder als Dekoration ausstellen und sie vorher noch schön herrichten. Wut stieg in ihm auf und sein Schweif reagierte abermals mit wildem Zucken.

      Der Tiger würde das nicht zulassen und die zwei vor diesem Sadisten retten. Aber er konnte den Menschen nun nicht mehr einfach hier an Ort und Stelle erledigen. Mit den bewusstlosen Ottern konnte er nicht fliehen. Das Beste war wohl, erst mal mit zu spielen und sie aufzupäppeln. Gemeinsam waren sie stärker und hätten leichtes Spiel mit diesem Jungen.

      Also bediente sich der Sklave ebenfalls aus dem Verbandskasten und kümmerte sich um den zweiten Otter. Stillschweigend arbeiteten sie nebeneinander und drückende Stille breitete sich aus. Nach nicht allzu langer Zeit erhob sich der Mensch, wischte sich einem sauberen Tuch über die Stirn und reinigte seine Hände. Achtlos warf er die dreckigen und mit Blut verschmierten Stoffstücke in eine Ecke und setzte sich auf die der Fahrtrichtung entgegengesetzte Sitzreihe.

      Mit einem Seitenblick prüfte der Tiger die Arbeit des Monsters und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass die Verbände ordentlich und fachmännisch angebracht waren. Er selbst hatte erst wenig mehr als die Hälfte der Verletzungen seines Patienten behandelt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Mensch sich die Tüte mit seinen Einkäufen angelte und das Buch herausfischte. Sogleich vertiefte er sich in das Geschriebene und achtete nicht weiter auf die drei Sklaven.

      »Ein Sklave sollte öfters erinnert werden, wo sein Platz ist, sei es durch Züchtigung, siehe Seite 15-43, oder mittels gewaltsamer sexueller Praktiken, siehe Seite 44-83«, las der Meister laut vor und schaute kurz auf. Auch die beste Fassade bröckelte irgendwann und so konnte der Tiger bei diesen Worten ein Zusammenzucken nicht vermeiden. Er hielt kurz inne und sammelte sich, bevor er einen Seitenblick zu seinem Meister riskierte. Dieser blätterte gelangweilt das Buch durch. Wahrscheinlich sucht er die gewaltsamen sexuellen Praktiken, dachte sich der Gestreifte und widmete sich erneut seiner Aufgabe.

      Begleitet von einem lauten Schnauben flog das Buch auf den noch freien Sitz neben dem Jungen. »Der Autor schreibt zehn Seiten allgemeine Dinge, der Rest ist Gewalt in verschiedensten Ausfertigungen vorbehalten.« Der Meister schüttelte den Kopf und atmete missgelaunt aus.

      Nicht genug Gewalt, Meister, fragte der Sklave stumm. Ihm war bewusst, dass sein Herr ihn beobachtete und so ließ er sich nichts anmerken. Nachdem er alle Wunden des Otters versorgt hatte, erhob sich der Sklave und säuberte seine Pfoten mit einem sterilen feuchten Tuch. Er legte es zu dem des Menschen und bereitete sich auf seine nächste Aktion vor.

      Nun wird es Zeit, dem Meister gefügig zu sein, dachte er sich und ging auf alle Viere. Mit einem verführerischen Blick näherte sich der Sklave langsam seinem Meister. Er war sich seines Körpers voll bewusst und zeigte sich absichtlich von seiner begehrenswertesten Seite. Der Junge sah derweil schweigend aus dem Fenster und bekam offenbar nicht mit, wie sich sein Sklave vor ihm räkelte.

      Verstimmt über diese Missachtung atmete er leise aus. »Meister, ich habe meine Arbeit beendet, gibt es noch etwas, was ich für Euch tun könnte?«, sprach der Sklave zum ersten Mal seinen Herrn direkt an.

      Der Blick des Jünglings glitt prüfend über die Brüder und anschließend zu ihm. Begierde blitzte in den kristallblauen Augen auf. Bestärkt durch dieses Zeichen legte der Gestreifte eine seiner Pfoten sanft in den Schritt des Jungen vor ihm. Ja, er hatte ins Schwarze getroffen. Nur zu deutlich konnte er die pochende Erregung des Jünglings spüren.

      Na, dann wollen wir mal. Fangen wir mit dem Standardprogramm an, dachte er sich.

      Doch plötzlich wurde die Pfote des Tigers umschlossen und mit sanfter Gewalt weggezogen.

      »Nein! Nicht so«, sagte der Meister bestimmend.

      Verschreckt senkte der Sklave den Blick und wartete auf die Befehle seines Herrn. Nachdem der Arm des Tigers losgelassen wurde, stahl sich eine Hand unter sein Kinn. Unter dem Druck der Finger seines Meisters wurde sein Kopf nach oben gezwungen, bis er in die kristallblauen Augen sehen konnte. Der Junge sagte mit sanfter Stimme: »Ich bin nicht, wie die anderen meiner Rasse. Ich will dir kein Leid zufügen, noch dich zu etwas zwingen, was du nicht willst.«

      Totale Verwirrung machte sich im Tiger breit. Er konnte nicht verstehen, warum der Meister ihn ablehnte. Hatte er etwas falsch gemacht? Tief in Gedanken bekam der Sklave nur am Rande mit, wie der Junge sich zu ihm herunterbeugte. Im Blick des Knaben war eindeutig Begierde zu sehen und doch verschmähte er ihn. »Dein Wohlergehen ist mir sehr wichtig.«

      Der Jüngling überwand die kurze Distanz zwischen ihnen und hauchte dem Sklaven einen zaghaften Kuss auf die Stirn.

      Die Gedankenwelt des Tigers stand still. Noch nie war er so geküsst worden, nicht einmal, als er noch frei gewesen war. Ein sanftes Kribbeln breitete sich von seiner Stirn aus in seinem ganzen Körper aus. Wie hypnotisiert konnte er weder denken noch sich bewegen. Gefangen in diesem unschuldigen Kuss.

      Ebenso schnell wie er begonnen hatte, endete der Moment und dennoch schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Viel zu schnell zog sich der Meister zurück und hinterließ eine Leere in ihm, die der weiße Tiger noch nie wahrgenommen hatte. Er brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass auch die Hand, die sein Kinn umschlossen


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