Der strafprozessuale Zugriff auf Inhaltsdaten in der Cloud. Dirk Meinicke
Gerade mit Blick auf den Bereich moderner Technologien enthält die Strafprozessordnung heute eine Vielzahl an Eingriffsmaßnahmen, was die Bedeutung des modernen Eingriffsbegriffs in diesem Zusammenhang erheblich erhöht.198 Darüber hinaus hat das BVerfG speziell bei tief in die Privatsphäre des Betroffenen eingreifenden Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen im Zusammenhang mit elektronischer Datenverarbeitung die besondere Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betont.199
Nach klassischem Verständnis ist eine gesetzliche Grundlage für jedes staatliche Handeln erforderlich, durch das in grundrechtliche Freiheiten des Bürgers eingegriffen wird.200 Dieser Gesetzesvorbehalt fußt einerseits auf rechtsstaatlichem, andererseits auf demokratietheoretischem Fundament.201 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt er deshalb, weil er die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns garantiert, die nicht gegeben wäre, wenn die Exekutive über Art und Umfang zulässiger Eingriffe frei disponieren könnte. Die Relevanz unterschiedlicher Auffassungen zum Gesetzesvorbehalt abhängig von der Natur der öffentlichen Maße wird insbesondere im Strafprozess relevant, da Ermittlungshandlungen häufig Realhandlungen darstellen. Dem gegenüberüber fordert die Lehre des Totalvorbehalts eine gesetzliche Grundlage für jegliches hoheitliches Handeln.202 Die Absehbarkeit kann insbesondere nur dann gewährleistet werden, wenn die Normen klar und verständlich sind, so dass an dieser Stelle erkennbar ist, wie im Strafverfahren Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz ineinandergreifen.203
Damit ist gewährleistet, dass die Grenzen der dem Zugriff des Staates entzogenen Freiheitsausübungsbefugnisse des Bürgers durch abstrakte Gesetze geregelt werden. Zugleich verwirklicht der Gesetzesvorbehalt auch einen demokratischen Grundsatz, indem sichergestellt wird, dass allein der unmittelbar vom Volk legitimierte Gesetzgeber die Grenzen der Freiheitsausübung – und die damit korrespondierenden Grenzen der Zugriffsbefugnisse staatlicher Organe – festlegt. Der demokratische Gedanke wird insbesondere dadurch verwirklicht, dass der Umfang und die erlaubte Intensität der Grundrechtseingriffe in den grundlegenden Aspekten im parlamentarischen Verfahren öffentlich unter Mitwirkung auch der nicht die Regierung tragenden Abgeordneten diskutiert wird.204
Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten, aus den fundamentalen Staatsprinzipien des Grundgesetzes abgeleiteten Überlegungen hat das Bundesverfassungsgericht die sog. Wesentlichkeitstheorie entwickelt, die besagt, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber zwar nicht alle, wohl aber alle wesentlichen grundrechtsrelevanten Entscheidungen selbst zu treffen hat.205 Die Systematik der Wesentlichkeitstheorie weist insofern Parallelen zur Ermächtigungsregelung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG auf, wo grundrechtssensible Bereiche betroffen sind. Wesentlich sind entsprechende Entscheidungen insofern jedenfalls dann, wenn sie für die Verwirklichung von Grundrechten erheblich sind.206 Damit ist nach zutreffender Auffassung indes – jedenfalls für den Bereich der strafprozessualen Eingriffsnormen – keine Einschränkung des klassischen Eingriffsvorbehalts verbunden.207 Insbesondere darf der Gesetzgeber nicht die wesentlichen Entscheidungen der fachgerichtlichen Rechtsprechung überlassen.208 Es bleibt vielmehr dabei, dass jeder Eingriff im herkömmlichen Sinne einer gesetzlichen Grundlage bedarf, mit anderen Worten also eine im vorstehenden Sinne „wesentliche“ Regelung darstellt. Die Wesentlichkeitstheorie ergänzt und erweitert den klassischen Eingriffsvorbehalt lediglich dahingehend, dass neben Grundrechtseingriffen in diesem Sinne auch andere grundrechtsrelevante Entscheidungen unmittelbar vom Gesetzgeber zu treffen sein können.
Diesbezüglich ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die Schwellentheorie, wonach erst ab einer relevanten, verifizierbaren Eingriffsintensität ein beachtlicher Grundrechtseingriff vorliegt, auch im Strafverfahren anwendbar bleibt, um die Ermittlungspraxis nicht zu überfordern oder zu blockieren.209 Allerdings sind solche Betrachtungen nur im Rahmen von unerheblichen Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht anzuerkennen.210 Eine solche Unerheblichkeit kann sich etwa bei der Spurensuche ergeben wenn diese nicht innerhalb der besonders geschützten räumlichen Sphäre erfolgt,211 oder bei Erkundigungen, die zwar der Erhebung von personenbezogenen Daten dienen, aber insoweit einen Bagatellbereich von Art. 2 Abs. 1 GG darstellen.212 Nach anderer Ansicht ist die Frage einer Bagatellbeeinträchtigung kein Aspekt der Eingriffshandlung, sondern die Intensität auf dogmatisch-struktureller Grundlage stets eine Frage der Rechtfertigungsebene, so dass der Gesetzesvorbehalt auch in diesen Fällen nicht umgangen werden kann.213 Besondere Relevanz für aktuelle Entwicklungen sind in diesem Zusammenhang sog. „Internet-Streifen“, in deren Rahmen auf nicht zugangsgeschützte Daten zugegriffen wird.214 Weil in der hier untersuchten Fallgestaltung ein solcher Bagatellbereich regelmäßig deutlich überschritten wird, bedarf es jedoch keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob er überhaupt anzuerkennen ist.
Ein anderer Ansatz, um den Eingriffscharakter abzulehnen, liegt in der hoheitlichen Vorgehensweise zur Informationserlangung. Nach einer Formulierung in der Rechtsprechung ist eine „passive Informationserlangung ohne Eingriffscharakter“215 möglich. Dies bedeutet etwa, dass ein passives Verhalten von verdeckt ermittelnden Beamten und V-Leuten, die sich in einem gewissen Umfeld bewegen und dort Informationen lediglich wahrnehmen, ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zulässig sein kann. Entscheidendes Kriterium ist insofern die Aktivität, auf der die staatliche Informationserlangung beruht.216 Auch dieser Aspekt ist vorliegend indes zu vernachlässigen, da hier nur der aktive Zugriff auf Daten im Wege strafprozessualer Zwangsmaßnahmen in Rede steht.
Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung sind insbesondere die Herausforderungen für strafprozessuale Ermittlungen angesichts neuer Technologien. Von großer Bedeutung ist deshalb die Frage, inwieweit eine existierende strafprozessuale Eingriffsnorm einer „zeitgemäßen“ Auslegung zugänglich ist,217 sofern Umstände auftreten, die bei Abfassung der Norm nicht bekannt waren und letztlich nicht bekannt sein konnten. Insofern ist zunächst zu untersuchen, ob bzw. in welchem Umfang die aus dem materiellen Strafrecht geläufigen Grundsätze des Art. 103 Abs. 2 GG/§ 1 StGB auch für das Strafprozessrecht Geltung beanspruchen können.
b) Analogieverbot und Bestimmtheitsgebot im Verfahrensrecht
Das sog. Gesetzlichkeitsprinzip des § 1 StGB, das in Art. 103 Abs. 2 GG mit Verfassungsrang ausgestattet ist, wird nach herkömmlichem Verständnis in vier unterschiedliche Ausprägungen unterteilt: das Verbot unbestimmter Strafgesetze, das Rückwirkungsverbot, das Verbot strafbegründenden oder strafschärfenden Gewohnheitsrechts sowie das Analogieverbot. Andere Autoren lehnen diese Unterteilung konstruktiv ab und fassen das Gesetzlichkeitsprinzip insgesamt als einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt auf.218 Es sprechen jedoch beachtliche Gründe dagegen, Art. 103 Abs. 2 GG im Strafverfahrensrecht unmittelbar anzuwenden.219 Selbst wenn der Wortlaut eine gegenteilige Auslegung wohl zuließe, streitet nicht zuletzt die historische Entstehung des Gesetzlichkeitsprinzips gegen seine Übertragung auf das Verfahrensrecht.220
Hintergrund des in Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes ist insbesondere die generalpräventive Funktion des materiellen Strafrechts, für die es im Bereich des Prozessrechts keine unmittelbare Entsprechung gibt. Insbesondere der Begriff der „Strafe“, welcher als „missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten“221 aufgefasst wird, zeigt, dass es sich bei materiellem Strafrecht um eine hoheitliche „Missbilligung“ menschlichen Verhaltens handelt, so dass der Strafe ein unmittelbarer, wertender Zugriff auf das Persönlichkeitsrechts des Bürgers zu Grunde liegt, verstärkt durch den Begriff der Schuld,222 wodurch sich das materielle Strafrecht erheblich von anderen hoheitlichen Eingriffen unterscheidet und daher die besondere Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf andere Eingriffssysteme außerhalb des materiellen Strafrechts anzuwenden ist. Aus diesem Grund ist Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht lediglich eine Bestätigung der allgemeinen Eingriffslehren, sondern bezieht sich stringent auf die einzigartige Besonderheit des materiellen Strafrechts innerhalb der allgemeinen hoheitlichen Eingriffsbefugnisse.223
Darüber hinaus dient das strafrechtliche Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG dazu, zu gewährleisten, dass der Gesetzgeber die Entscheidung zu treffen hat, ob und mit welchem Umfang ein bestimmtes Rechtsgut mit den Mitteln des Strafrechts zu verteidigen ist.224 Rechtsanwender dürfen diese Entscheidungen nicht ignorieren oder korrigierend eingreifen.225 Der Vorschrift kommt daher eine freiheitsgewährleistende