Der strafprozessuale Zugriff auf Inhaltsdaten in der Cloud. Dirk Meinicke
regelmäßig einem Beweisverwertungsverbot unterliegen (E).
166 Warken, NZWiSt 2017, 289, 291. 167 Vgl. auch Dalby, Grundlagen, S. 6f. 168 Zusf. und m.w.N. hierzu Warken, NZWiSt 2017, 289, 296. 169 Heinson, IT-Forensik, S. 267. 170 Zu dieser Problematik Dalby, Grundlagen, S. 6f.
C. Der verfassungsrechtliche Rahmen strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen
Im folgenden Abschnitt werden die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen untersucht, die bei der Anordnung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen zu berücksichtigen sind. Da eine grundlegende Reform der Regelungen des Achten Abschnitts der StPO angesichts der Herausforderungen des digitalen Zeitalters nach wie vor aussteht, unbeschadet der eher hektisch und unüberlegt eingefügten §§ 100a Abs. 1 S. 2, S. 3, 100b StPO, wird besonderes Augenmerk darauf zu legen sein, inwiefern der interpretatorischen Weiterentwicklung des Anwendungsbereichs überkommener Eingriffsgrundlagen durch das Verfassungsrecht Grenzen gezogen sind.
I. Verfassungsrechtliche Vorüberlegungen
Dass Strafprozessrecht und Verfassungsrecht eine Vielzahl von Verschränkungen aufweisen, dürfte als allgemein anerkannt gelten.171 Das Strafverfahrensrecht ist maßgeblich durch den Antagonismus zwischen der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs einerseits und der Wahrung der Rechte des Beschuldigten andererseits gekennzeichnet, der auf beiden Seiten verfassungsrechtlich überformt ist.172 Daraus ergibt sich eine gegenläufige verfassungsrechtliche Gesamtprägung des Strafverfahrens insofern, als das Rechtsstaatsprinzip nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts mit Blick auf die Rechtsposition des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt fordert, sondern auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege nicht nur gestattet, sondern sogar verlangt.173 Auf der einen Seite ist es demnach eine mit Verfassungsrang ausgestattete Aufgabe des Strafverfahrensrechts, das auf Rechtsgüterschutz ausgerichtete materielle Strafrecht durchzusetzen. Hierzu bedarf es nicht zuletzt deshalb effektiver Ermittlungsinstrumente, weil ein vorwiegend auf General- bzw. Spezialprävention bedachtes Strafrecht seine Zwecke nur erfüllen kann, wenn seine Anwendung im größtmöglichen Maße auf Wahrheit und richtiger Rechtsanwendung beruht.174 Somit benötigen die Ermittlungsbehörden geeignete Mittel und Instrumente, um diese Aufgabe der Wahrheitsfindung wahrnehmen zu können. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und der Anspruch aller in Strafverfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung erfordern grundsätzlich, dass der Strafanspruch durchgesetzt wird, also auch eingeleitete Verfahren fortgesetzt und rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden.175 Es kann daher kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die Gewährleistung der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ von der ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mit Recht als Verfassungsauftrag betrachtet wird.176 Dementsprechend ist dem Staat insbesondere der Verzicht auf die Verwirklichung seines Strafanspruchs einschließlich der Vollstreckung einer Strafe von Verfassung wegen untersagt.177
Dieses Verfassungspostulat einer effektiven Strafrechtspflege unterliegt nun aber seinerseits wieder in erheblichem Maße verfassungsimmanenten Beschränkungen. Dies folgt schon aus den soeben skizzierten Gedanken zu den Aufgaben des Strafverfahrensrechts, da eine positive Generalprävention nur dann möglich ist, wenn sich der Staat in der Durchsetzung seines Strafanspruches selbst beschränkt und den Bürger nicht zum hilflosen Objekt des Strafverfahrens degradiert.178 Insofern stehen der Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers und der staatliche und damit auch letztlich dem Bürger zustehende Anspruch auf ein justizförmiges Verfahren als eigenständiger Bestandteil des rechtsstaatlichen Strafverfahrens in einem strukturellen Spannungsverhältnis.179 Dabei ist im Zusammenhang mit Ermittlungsmaßnahmen der Strafverfolgungsorgane insbesondere zu bedenken, dass der Beschuldigte zum maßgeblichen Zeitpunkt zwingend als unschuldig zu gelten hat. Die Unschuldsvermutung ist nicht nur in Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der europäischen Union (GRC) ausdrücklich aufgeführt; sie genießt darüber hinaus als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang.180 Des Weiteren ist sie auch nach europarechtlichen Vorgaben als Grundrecht anzuerkennen, welches die europäischen Mitgliedstaaten schützen müssen.181 Die Unschuldsvermutung muss aufgrund dieser Gewichtung daher nicht erst ab Klageerhebung gelten,182 sondern bereits ab der Einleitung von Ermittlungen.183 Das Ermittlungsverfahren richtet sich insofern somit streng genommen stets gegen einen Unschuldigen, mag sich dieser später auch als schuldig erweisen.
Daraus folgt indes natürlich nicht die Unzulässigkeit jedweder Zwangsmaßnahmen vor der Feststellung der Schuld. Denn streng genommen müsste die konsequente Annahme, dass der von den Ermittlungen Betroffene unschuldig ist dazu führen, dass Zwangsmaßnahmen gegen ihn überhaupt nicht angewendet werden dürfen.184 Dies wäre aber ersichtlich widersinnig. Insofern behandelt die Unschuldsvermutung in ihrem Kern nur die Aussage, dass eine Person vor einer Verurteilung weder als schuldig bezeichnet noch so behandelt werden darf.185
Letztlich dienen strafprozessuale Ermittlungen bis zu einem gewissen Grad sogar der Realisierung der Unschuldsvermutung, die voraussetzt, dass das Strafverfahren geeignete Instrumente zur Wahrheitsfindung vorsieht, damit es Schuld oder Unschuld jeweils zu Tage fördern kann.186 Denn für Strafverfolgungs- und Ermittlungsverfahren ist nicht die Schuld des Betroffenen Voraussetzung, sondern lediglich das Vorliegen des Verdachts; strafprozessuale Zwangsmaßnahmen dienen daher der Klärung eines Strafvorwurfs.187 Daher entfaltet die Unschuldsvermutung eine begrenzende Funktion im Zusammenhang mit der Zulässigkeit solcher Maßnahmen. Diese sind nämlich gegen jeden Beschuldigten nur in einem solchen Umfang zulässig, in dem sie auch gegenüber einem Unschuldigen als noch verhältnismäßig anzusehen wären.
Ergeben sich also aus der Unschuldsvermutung keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Anordnung von Zwangsmaßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts, richtet sich der Blick nun auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt, dem aus verfassungsrechtlicher Perspektive erhebliche Bedeutung bei der Formulierung der Legitimationsbedingungen für solche Maßnahmen zukommt.188 Die diesbezügliche Relevanz des Gesetzesvorbehalts soll im folgenden Abschnitt – soweit es für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist – untersucht werden.
1. Gesetzesvorbehalt und Eingriffsnorm
a) Allgemeiner Eingriffsvorbehalt und Wesentlichkeitskriterium
Es darf heute als weitgehend unbestritten gelten, dass strafprozessuale Zwangsmaßnahmen maßgeblich dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in Grundrechte des Beschuldigten eingreifen.189 Somit entspricht es zu Recht der allgemeinen Auffassung, dass das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip des allgemeinen Gesetzesvorbehalts im Strafprozessrecht uneingeschränkt anwendbar ist190 Es kann sich insofern um Eingriffe in spezielle Grundrechte handeln, wie etwa Art. 10 GG191, Art. 12 Abs. 1 GG192, Art. 13 Abs. 1 GG193 oder Art. 14 Abs. 1 GG. Darüber hinaus kann es zu Eingriffen in das aus dem Rechtsstaatsprinzip194 folgende Recht auf ein faires Verfahren („fair-trial-Grundsatz“) oder in das allgemeine Persönlichkeitsrecht kommen.195
Besondere Bedeutung kommt hierbei der heimlichen Aufzeichnung von Daten und anderen Überwachungsmaßnahmen zu, die namentlich mit Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen unterschiedlichen Ausprägungen – sowie unter dem Gesichtspunkt der die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG196 – zu würdigen ist. Hier hat sich inzwischen in der verfassungsrechtlichen Doktrin ein Verständnis durchgesetzt, wonach weniger der auf Befehl und Zwang beruhende unmittelbare und finale Eingriff in eine geschützte Rechtsposition entscheidend für die Charakterisierung als Grundrechtseingriff ist; ein solcher liegt vielmehr bei jedem staatlichen Handeln vor, das in zurechenbarer