Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
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Kartellrechtliche
Innovationstheorie
für digitale Plattformen
Sebastian Louven
Fachmedien Recht und Wirtschaft | dfv Mediengruppe | Frankfurt am Main
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-8005-1753-4
© 2021 Deutscher Fachverlag GmbH, Fachmedien Recht und Wirtschaft, Frankfurt am Main
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Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang
Printed in Germany
Vorwort
Diese Arbeit ist das Ergebnis aus meiner Forschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, in der ich zahlreiche Grundlagenfragen zum Kartellrecht der Informationsgesellschaft klären konnte. Einige Gedanken bewegten mich bereits länger und reichen noch in meine ersten beruflichen Jahre zurück. Inspiriert wurde ich unter anderem von der Streitfrage, ob es einen Schutz vor Veränderung geben kann.
Ich habe hier mehrere Aspekte miteinander verbunden, die mich auch persönlich sehr stark bewegen: Wie können ständige Veränderungen (kartell-)rechtlich erfasst werden; welche Relevanz und Bedeutung hat Wissen; was ist der Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität und welche Konsequenzen löst die Antwort auf das Recht und die Rechtsfindung aus? Die Erkenntnisse der Arbeit haben ihren letzten Stand zur Abgabe im Dezember 2019, noch bevor der BGH mit seinem bahnbrechenden Facebook-Beschluss eine ihrer wesentlichen Annahmen zum effektiven Wettbewerb und der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten bei der Auslegung der kartellrechtlichen Vorschriften bestätigte.
Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Taeger, dass er mir dieses Vorhaben ermöglicht hat. Auch meiner Korreferentin Prof. Dr. Louisa Specht-Riemenschneider danke ich für kreative und bereichernde Austausche. Beide haben mich in den letzten Jahren wissenschaftlich und freundschaftlich begleitet und ich bin froh über diese Vorbilder.
Bereits seit mehreren Jahren bin ich Mitglied des Telemedicus-Kernteams und darf damit einem sehr kreativen Umfeld angehören, das sich für diese Arbeit als äußerst produktiv erwiesen hat. Für die zahlreichen tollen Gelegenheiten und die Zusammenarbeit danke ich dem gesamten Team. Mein ganz besonderer Dank gilt dabei meinem Freund und Mentor Dr. Sebastian Brüggemann, M.A., der mir immer wieder helfend zur Seite stand und diese Arbeit durch zahlreiche Diskussionen bereichert hat.
Meinem Schwiegervater Dr. Johannes-Wilhelm Louven danke ich für die sorgfältige und interessierte Durchsicht des Manuskripts.
Mein größter Dank geht aber an meine Frau, Dr. Verena Louven. Ihr verdankt diese Arbeit ihre Existenz, denn ohne ihre Kritik, Motivierung und Offenheit wären viele Gedanken unausgesprochen und fragmentarisch geblieben, die Arbeit möglicherweise erst viel später oder sogar überhaupt nicht fertig gestellt worden. Ich widme diese Arbeit meiner Tochter, der größten Veränderung in meinem Leben, die mich zu einem besseren Menschen macht.
November 2021 | Dr. Sebastian Louven |
A. Heranführung an die Untersuchung
Immer mehr Unternehmen richten ihre Geschäftsmodelle darauf aus, mehrere Kundengruppen gleichzeitig anzusprechen und miteinander zu verbinden.1 Es handelt sich dabei häufig um digitale Plattformen, was aus dem Umstand folgt, dass diese Angebote derzeit im Wesentlichen über das offene Internet mittels des hierfür verwendeten Internetprotokolls erbracht werden. Digitale Plattformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur verschiedene Kundengruppen, zwischen denen indirekte Netzwerkeffekte wirken, zusammenbringen, sondern sie stellen oftmals konventionelle Geschäftsmodelle digitalisiert dar, virtualisieren sie also. Letzteres meint, dass diese Unternehmen über das Konstrukt einer digitalen Plattform ein Produkt anbieten, das nicht zwingend grundsätzlich neu sein muss, sondern eine Nachfrage befriedigt, die bereits bestand und durch konventionelle Angebote nicht ausreichend befriedigt werden konnte. Dennoch können diese Angebote als neu, erweiternd, revolutionär oder verdrängend anzusehen sein2 – allgemein als „innovativ“. In der Kartellrechtswissenschaft sowie -praxis gewinnen Plattform-Sachverhalte eine zunehmende Bedeutung. Hierbei treten zunehmend Fragen auf, die im weiten wie auch im engeren Sinne mit Innovation in Verbindung gebracht werden. Der Sammelbegriff „digitale Plattformen“ umschreibt also innovationserhebliche Lebenssachverhalte. Erheblich meint hierbei diejenigen den Innovationsbegriff umschreibenden Umstände, die sich im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Sachverhalten zur Beeinflussung rechtlicher Entscheidungen eignen. Dabei stellt sich ebenso die Frage, inwiefern diese erheblichen Umstände und auf ihnen basierende Annahmen in rechtliche Entscheidungen übertragen werden können. Ausgehend von einem in dieser Arbeit angenäherten Innovationsbegriff soll die Arbeit eine methodische Einordnung in das geltende europäische und deutsche Kartellrecht vornehmen und neue Denkansätze für innovationsbezogene Sachverhalte vorschlagen.
1 Zusammenfassend für die Diskussion in der deutschen Literatur Körber, ZUM 2017, S. 93 (94); Höppner/Grabenschröer, NZKart 2015, S. 162 (162); die Begriffsumschreibung geht maßgeblich auf die Erkenntnisse bei Rochet/Tirole, RJE 2006, S. 645 (664f.) zurück. 2 Kurz, Wirtschaftsdienst 2017, S. 785.
I. Digitale Plattformen als Herausforderer des Kartellrechts
Wirtschaftlich wie politisch haben digitale Plattformen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.3 Dies lässt sich besonders an den diversen Social-Media-Netzwerken festmachen, wie zum Beispiel Facebook, Twitter, LinkedIn und weitere. Aber auch Content-Angebote wie auf den Stream-Plattformen oder Handelsplattformen wie Amazon spielen eine wichtige Rolle. Digitale Plattformen erwirtschaften zunehmend höhere Rekordumsätze und gewinnen immer mehr Einfluss. So scheint sich bereits oberflächlich betrachtet der Trend stets zu bestätigen, dass sich, wenn in einem bestimmten Bereich eine Plattform einmal etabliert ist, immer mehr weitere Unternehmen wie auch Kunden auf das Angebot dieser Plattform einstellen.4 Gleichzeitig stehen sie als Unternehmen sinnbildlich für den Erfolg und die Bedeutung im Zeitalter der Informationsgesellschaft.5
Die wirtschaftswissenschaftliche Analyse von Plattformen hat sich seit Beginn des Jahrtausends verstärkt. Erkenntnisse aus der Forschung zu Industrieökonomie und Volkswirtschaft ermöglichen bereits die Erfassung digitaler Plattformen.6 So lässt sich hinsichtlich der Einordnung digitaler Plattformen in das System der Marktabgrenzung und Marktmachtbestimmung auf verschiedene Theorien zurückgreifen, insbesondere das Konzept von Plattformen als „mehrseitigen Märkten“.7 Die Anwendbarkeit dieser wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse wurde bereits in ersten Entscheidungen der europäischen Kommission und des Bundeskartellamts erörtert.8 Auch juristische Arbeiten setzen sich mit diesem Konzept auseinander.9 Dabei sind derzeit einige Fragen noch offen, die für diese Untersuchung relevant sind. Bereits auf der begrifflichen Ebene ist nicht abschließend geklärt, inwieweit das Konzept der mehrseitigen Märkte zur Erfassung von Plattform als solches geeignet ist auch den Begriff Markt auszufüllen.10 Da nämlich der Markt verkürzt gesagt durch Angebot und Nachfrage beschrieben wird11 und diese beiden Merkmale mehrseitigen Wirtschaftszweige regelmäßig mehrfach, nämlich mindestens in der jeweils beschriebenen Plattform-Seite, vorkommen, ist auch das Vorliegen eines