Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
wandelnde Geschäftsmodelle und ihre enge Verzahnung untereinander in neue Verhältnisse untereinander bringen, die mit dieser Untersuchung beleuchtet werden sollen.34 Plattformen umschreiben also innovationserhebliche Sachverhalte. Datengetrieben meint dabei, dass diese Plattformen in besonderer Weise mit dem gestiegenen Interesse an einem Austausch an Informationen und Daten in einem weiteren Sinne verbunden werden können.35 Plattformen machen sich die technologischen wie wirtschaftlichen und wettbewerblichen Vorteile der Entwicklungen in der Internetwirtschaft zu eigen.
Plattformen sind als solche keine völlig neue Erscheinungsform.36 Bereits vor dem sogenannten „digitalen Zeitalter“ gab es Unternehmen, die Netzwerkeffekte für sich ausnutzten und verschiedene Nutzergruppen mit unterschiedlichen Interessen miteinander verbanden, zum Beispiel im Zusammenhang mit Software, Medienportalen, Zeitschriften und Zahlungsdiensten.37 Mit zunehmender Digitalisierung und größerer Wertschöpfung in der Online- und Digitalwirtschaft gewinnen Plattformen ebenso weitere wie neue Bedeutungen.38 Dies liegt an den mit dem Internet verbundenen Vorteilen, insbesondere den noch aufzuzeigenden Kostenvorteilen, besserer Verteilung nachgefragter Produkte und Vermittlung von Informationen und damit Wissen, sowie einer schnellen Erschließung nächster Kapitalisierungsmöglichkeiten.39 Besonders stark zeigt sich dies in technischer Hinsicht darin, dass die neuen Technologien vor allem auf eine schnellere und wirtschaftlichere Verarbeitung von Informationen ausgerichtet sind, weshalb digitale Plattformen als besonderes soziales Phänomen des sogenannten „Informationszeitalters“ angesehen werden können. Eine besondere Bedeutung haben hier zudem Netzwerkeffekte, die in Zusammenhang mit den Entscheidungen einzelner Individuen einer bestimmten Nutzergruppe und deren Auswirkungen auf andere Individuen derselben oder einer anderen Nutzergruppe stehen. Die beiden wesentlichen Herausforderungen für Plattform-Anbieter liegen hier einerseits darin, verschiedene Nutzergruppen zu adressieren und Nutzerbeziehungen zu generieren, und andererseits in einem hiermit einhergehenden Henne-Ei-Paradoxon hinsichtlich der zuerst präsenten Nutzergruppe.40 Dabei kann der Zusatz „digital“ ebenso wenig wie bereits der Plattformbegriff fest definiert werden, sondern dient vielmehr einer ersten Annäherung an den Untersuchungsgegenstand und seiner Eingrenzung, um daraus die für eine rechtliche Bewertung erheblichen Besonderheiten herauszuarbeiten.
32 Vgl. allein: Bundeskartellamt, Digitale Ökonomie – Internetplattformen zwischen Wettbewerbsrecht, Privatsphäre und Verbraucherschutz v. 1.10.2015, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/AK_Kartellrecht_2015_Digitale_Oekonomie.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 8ff.; zur Übersicht Telle, in: Blocher/Heckmann/Zech, DGRI Jahrbuch 2016, 2017, S. 143 (143); aus der Rechtspraxis der EU-Kommission vgl. exemplarisch Kommission, Entsch. v. 18.7.2018 – AT.40099 (Google Android); Kommission, Entsch. v. 27.6.2017 – AT.39740 (Google Search (Shopping)), http://ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/dec_docs/39740/39740_14996_3.pdf (abgerufen 29.11.2018); Kommission, Entsch. v. 6.12.2016 – COMP/M.8124 (Microsoft/LinkedIn), http://ec.europa.eu/competition/mergers/cases/decisions/m8124_1349_5.pdf (abgerufen 29.11.2018); Kommission, Entsch. v. 3.10.2014 – COMP/M.7217 (Facebook/WhatsApp), ABl. C 417, 4; aus der Rechtspraxis des Bundeskartellamts vgl exemplarisch BKartA, Beschl. v. 6.2.2019 – B6-22/16 (Facebook), BeckRS 2019, 4895; BKartA, Beschl. v. 22.12.2015 – B9-121/13 (Meistbegünstigungsklauseln bei Booking.com), BeckRS 2016, 4449; BKartA, Beschl. v. 22.10.2015 – B6-57/15 (Online-Datingplattformen), BeckRS 2016, 1137; BKartA, Beschl. v. 26.8.2015 – B2-98/11 (Asics), BeckRS 2016, 9244; aus der europäischen Rechtsprechung siehe allein EuGH, Urt. v. 6.12.2017 – C-230/16 (Coty Germany), ECLI:EU:C:2017:941, MMR 2018, 77 (m. Anm. v. Hoeren) = NZKart 2018, 36 = GRUR 2018, 211 (m. Anm. v. Funke/Neubauer) = ZVertriebsR 2018, 52; EuGH, Urt. v. 21.1.2016 – C-74/14 (Eturas), ECLI:EU:C:2016:42, NZ-Kart 2016, 133; EuG, Urt. v. 17.9.2007 – T-201/04 (Microsoft), ECLI:EU:T:2007:289, Slg. 2007, II-03601 = BeckRS 2007, 70806; in der deutschen Rechtsprechung BGH, Beschl. v. 21.6.2018 – I ZR 40/17 (Ersatzteilinformation), GRUR 2018, 955; BGH, Urt. v. 12.12.2017 – KZR 50/15 (Rimowa), NZKart 2018, 134. 33 Evans/Schmalensee, Matchmakers, 2016, S. 19. 34 Bester, Theorie der Industrieökonomik, 2017, S. 185; Bundeskartellamt, Arbeitspapier – Marktmacht von Plattformen und Netzwerken v. 9.6.2016, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/Think-Tank-Bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 84; bereits Boehme-Neßler, ZÖR 2009, S. 145 (149). 35 Telle, in: Blocher/Heckmann/Zech, DGRI Jahrbuch 2016, 2017, S. 143; Graef, EU competition law, data protection and online platforms, 2016; Drexl, JIPITEC 2017, S. 257; König, in: Hennemann/Sattler, Immaterialgüter und Digitalisierung, 2017, S. 89; Louven, NZKart 2018, S. 217; Schweitzer, GRUR 2019, S. 569; die Bedeutung und weitere Einzelaspekte dazu auch darstellend Kaben, in: Körber/Immenga, Daten und Wettbewerb in der digitalen Ökonomie, 2016, S. 123; Mayer-Schönberger/Ramge, Das Digital, 2017; Richter/Slowinski, IIC 2019, S. 4; Sattler, in: Sassenberg/Faber, Rechtshandbuch Industrie 4.0 und Internet of Things, § 2; Schweitzer/Peitz, NJW 2018, S. 275; Körber, NZKart 2016, S. 303; Körber, NZKart 2016, S. 348. 36 Vgl. zu dieser Aussage kritisch Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 8. 37 Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990 (990); Rochet/Tirole, RJE 2006, S. 645 (646); Dewenter/Rösch/Terschüren, NZKart 2014, S. 387 (388). 38 Einführend dazu Henseler-Unger, in: Sassenberg/Faber, Rechtshandbuch Industrie 4.0 und Internet of Things, § 1, Rn. 6ff.; Scheer, IS 2016, S. 275 (277); Nach Körber, ZUM 2017, S. 93 (94) sind mehrseitige Geschäftsmodelle wie Plattformen „im Internet“ die Regel und nicht die Ausnahme. 39 Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990 (990). 40 Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 4f; Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015, S. 111ff.; dies zurückführend auf die Untersuchungen ausgehend von Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990 (990).
I. Eingrenzung und technische Hintergründe
Der wirtschaftliche Erfolg vieler Plattformen hängt mit den zunehmend besseren, schnelleren und kostengünstigeren Möglichkeiten zusammen, Informationen zu verarbeiten, zu transportieren und zu teilen.41 Dies lässt sich an den im ausgehenden 20. Jahrhundert eintretenden Entwicklung der Informationstechnologie beobachten, die schließlich in die als solche genannte „digitale Revolution“ überging.42 Es besteht also ein erster enger Zusammenhang zwischen Innovation und den technischen Entwicklungen der letzten Jahre und dem Erfolg einiger Plattform-Unternehmen.43 Informationstechnologie beschreibt dabei den Oberbegriff für eingesetzte physische Informationstechnik bzw. -infrastruktur sowie standardisierte Protokolle und Anwendungen.44 In den letzten Jahren kamen weitere Entwicklungen wie die Blockchain-Technologie oder andere vernetzte Systeme, virtuelle oder augmentierte Realität und schließlich im weitesten Sinne künstliche Intelligenz hinzu. Allen diesen technischen Entwicklungen und Eigenschaften gemein ist, dass sie nicht im herkömmlichen Sinn wie physische Produkte verschleißen, und dass sie alle Akteure zu ständig neuen Entwicklungen herausfordern.45
Ausgang nahmen diese Entwicklungen etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts anlässlich durch das US-Militär aufgrund seines Bedarfs nach einem informationstechnischen Vorsprung gegenüber den damaligen Ostblock-Staaten im kalten Krieg vorangetriebener Forschungsprojekte, mittels derer eine verbesserte Vernetzung der Kapazitäten bereits vorhandener Computer erzielt werden sollte.46 Dies bezog sich zunächst ausschließlich auf vorhandene Computer des Militärs, sowie anderer staatlicher und wissenschaftlicher Einrichtungen. Die Vernetzung ließ sich dabei über bereits bestehende Telekommunikationsinfrastrukturen herstellen. Später wurde die Internettechnik entwickelt, die sich von der herkömmlichen Leitungsvermittlung durch die Verwendung der auf Paketvermittlung ausgerichteten Protokollfamilie TCP/IP unterscheidet.47 Die dadurch geschaffene Internet-Infrastruktur wurde zu Beginn der 1990er Jahre für