Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen. Sebastian Louven
Marktbeziehungen die Feststellung eines Marktes an sich nicht ersetzen kann. Stattdessen müssen auch bei Plattformen zunächst die jeweiligen Plattform-Seiten untersucht werden. Entsprechend ist der Begriff „mehrseitige Märkte“ missverständlich. Geeigneter erscheint hier die Bezeichnung „mehrseitige Wirtschaftszweige“, „mehrseitige Marktbeziehungen“ oder aber „mehrseitige Geschäftsmodelle“.12 Dennoch wird in der neuen Regelung des § 18 Abs. 3a GWB der Begriff „mehrseitige Märkte“ verwendet. Die Arbeit wird hierzu eine Klarstellung vornehmen.
Der wissenschaftliche Diskurs im Kartellrecht beschäftigt sich im Zusammenhang mit digitalen Plattformen mit mehreren grundlegenden Problemen.13 So geht es um das Verhältnis digitaler Plattform zum Begriff des relevanten Marktes. Hier bildet das in der ökonomischen Wissenschaft entwickelte Konzept der mehrseitigen Marktbeziehungen eine prägende Rolle für rechtliche Lösungskonzepte.14 Denn aufgrund der für digitale Plattformen prägenden Matchmaker-Funktionen15 lassen sich diese nicht mehr ohne weiteres in das von einem bipolaren Markt Begriff geprägte Kartellrecht einordnen. Die Tätigkeit der meisten Unternehmen am Markt besteht nicht mehr allein in der Befriedigung spezifischer Produkt- oder Leistungsnachfragen, sondern zunehmend in der Vermittlung unterschiedlicher Interessen oder jedenfalls Verknüpfung mehrerer Marktverhältnisse. Hinzu kommt, dass digitale Plattformen ihr Angebot häufig an eine Nutzergruppe ohne ein unmittelbares monetäres Entgelt bereitstellen. Wenn sich digitale Plattformen aber bereits nicht ohne weiteres in das konventionelle bipolare Marktverständnis, dass nämlich der Markt durch Angebot und Nachfrage geprägt ist, einzuordnen lassen scheinen, ist in der Folge die Bestimmung einer marktbeherrschenden Stellung vor neue Herausforderungen gestellt. Dies ist bereits in einigen Fusionskontroll- bzw. Marktmachtmissbrauchsverfahren zum Gegenstand einer praktischen Entscheidung gemacht worden.16 Hier sind noch Prüfkonzepte zu entwickeln und zu vermitteln, die einer rechtlichen Überprüfung standhalten.
Der deutsche Gesetzgeber hat mit der 9. GWB-Novelle im Jahr 2017 neue Regelungen aufgenommen, wie sie zuvor in der Rechtspraxis und insbesondere von den Kartellbehörden diskutiert wurden. Eines dieser Merkmale, dass bei Plattform-Sachverhalten anwendbar sein soll, ist das des „innovationsgetriebenen Wettbewerbsdrucks“ nach § 18 Abs. 3a Nr. 5 GWB. Eine hilfreiche Begründung liefert der Gesetzgeber hierzu nicht, relativiert sich vielmehr selbst, indem in der Gesetzesbegründung die bloße Aussicht auf das zukünftige Wegfallen einer marktbeherrschenden Position als nicht ausreichender Einwand zu sehen ist.17 Es komme stattdessen auf eine nicht nur abstrakte, zeitlich vage Angreifbarkeit der Marktposition an. Für die kartellrechtliche Fallmethodik stellt sich hier zum einen ebenso die Herausforderung der Klärung des Innovationsbegriffs, und zwar als Bestandteil des Kriteriums eines innovationsgetriebenen Wettbewerbsdrucks, zum anderen ist eine Abgrenzung zwischen dem von diesem Kriterium erfassten Druck einerseits und den nicht mehr erfassten abstrakten Veränderungen andererseits vorzunehmen. Die Arbeit soll an dieser Stelle eine aufgreifende Auslegung dieser neuen Vorschrift vornehmen.
Kartellrecht ist bereits innovationsrelevantes Recht unabhängig von dieser konkreten Neuregelung in der Form, dass es aufgrund seiner Zielbestimmung, seines Schutzzwecks und seines Wortlauts innovationserhebliche Sachverhalte miterfasst. Über die Frage nach bestehender Marktmacht hinaus lässt sich Innovation in einen Zusammenhang mit dem tatsächlichen oder erwarteten Verhalten marktmächtiger Unternehmen stellen. Daneben kann Innovation in mehrseitigen Maßnahmen verschiedener Unternehmen eine Rolle spielen. Es handelt sich hierbei um einen sprachlichen Ausdruck, der im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Sachverhalten – und insbesondere mit Plattform-Sachverhalten – also vielfältig verwendet wird und dessen begriffliche Einordnung deshalb zu erörtern ist.18
3 Evans/Schmalensee, Was unterscheidet Plattformen von traditionellen Unternehmen? v. 14.7.2016, http://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/was-unterscheidet-plattformen-vontraditionellen-unternehmen-a-1102862.html (abgerufen 14.12.2019); auch bereits Wieddekind, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 134. 4 Schweitzer et al., Modernisierung der Missbrauchsaufsicht für marktmächtige Unternehmen, 2018, S. 15. 5 Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 8. 6 Vgl. insbesondere den für die Entwicklung des Konzepts der mehrseitigen Plattformen maßgeblichen Aufsatz von Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990ff.; eine historische Darstellung findet sich bei Evans/Schmalensee, Matchmakers, 2016, S. 14ff. 7 Evans, YJR 2002, S. 325 (325ff.); Rochet/Tirole, JEEA 2003, S. 990 (990ff.); Rochet/Tirole, RJE 2006, S. 645 (645ff.); Armstrong, RJE 2006, S. 668 (668ff.); Armstrong/Wright, ET 2007, S. 353 (353ff.); Evans/Noel, JCLE 2008, S. 663 (663ff.); grundlegend im deutschsprachigen Raum dazu Budszinski/Lindstädt, WiST 2010, S. 436 (436ff.); Dewenter/Rösch, Einführung in die neue Ökonomie der Medienmärkte, 2015, S. 8ff. 8 Bundeskartellamt, Arbeitspapier – Marktmacht von Plattformen und Netzwerken v. 9.6.2016, https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/Think-Tank-Bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen 14.12.2019), S. 14ff. 9 Siehe insbesondere die Arbeit von Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015. 10 Grave, in: Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, Kapitel 2, Rn. 15 m.w.N. 11 Podszun, in: Kersting/Podszun, Die 9. GWB-Novelle, Kapitel 1, Rn. 5; Podszun/Franz, NZKart 2015, S. 121 (124). 12 Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015, S. 25. 13 Vgl. Wolf, Kartellrechtliche Grenzen von Produktinnovationen, 2004, S. 72, der ein Ändern „aller essentiellen Variablen einer kartellrechtlichen Überprüfung wie Wettbewerber, Marktdefinition, Wettbewerbsvorteile, Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen und Natur der zu erwartenden Renten“ bereits 2004 voraussah. 14 Bundeskartellamt, Big Data und Wettbewerb v. 6.10.2017, http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Schriftenreihe_Digitales/Schriftenreihe_Digitales_1.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen 14.12.2019), S. 5; eine Erörterung und kartellrechtliche Einordnung des Phänomens der mehrseitigen Wirtschaftsbeziehungen erfolgt auch bei Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015. 15 Evans/Schmalensee, Matchmakers, 2016, S. 16. 16 Siehe vor allem Kommission, Entsch. v. 6.12.2016 – M.8124 (Microsoft/LinkedIn); Kommission, Entsch. v. 3.10.2014 – M.7217 (Facebook/WhatsApp); BKartA, Beschl. v. 20.4.2015 – B6-39/15 (Online-Immobilienplattformen), nicht veröffentlicht; BKartA, Beschl. v. 24.7.2015 – B8-76/15 (Online-Vergleichsplattformen), nicht veröffentlicht. 17 Regierungsbegründung zur 9. GWB-Novelle, BT-Drs.18/10207, S. 51. 18 Einführend zur Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und ihrer Funktion der Rechtswissenschaft: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2018, Rn. 155a.
II. Innovation als Herausforderung für die Rechtsanwendung
Gegenwärtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen beschäftigen sich bereits partikular mit einzelnen Aspekten dieser Untersuchung.19 So werden der Plattform-Begriff und das Konzept der mehrseitigen Märkte in den letzten Jahren bereits allgemein unter rechtlichen Aspekten diskutiert, zunehmend speziell in kartellrechtlicher Hinsicht.20 Auch rechtswissenschaftliche Innovationsforschung wird bereits seit mehreren Jahrzehnten mit unterschiedlichen Schwerpunkten betrieben, vorangetrieben insbesondere von Hoffmann-Riem.21 Besonders stark in der Diskussion stehen hier die Ausgangstheorien von Schumpeter zu Innovation und Wirtschaft, auf die es besonders ankommen wird.22 Jedoch