Handbuch Hamburger Polizei- und Ordnungsrecht für Studium und Praxis. Sven Eisenmenger
Unionsrecht (A.II.) und sodann das Verfassungsrecht (A.III.) erläutert. Die EMRK (Stufe Bundesgesetz) wird ggf. ergänzend im Rahmen des Verfassungsrechts eingeflochten, da sie hier als Auslegungshilfe der grundgesetzlichen Normen herangezogen wird.
II. Unionsrechtliche Anforderungen und Europäisierung
Kristin Pfeffer
1. Primärrechtliche Anforderungen – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR)
a) Vorbemerkung
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Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR)8 ist in den letzten Jahren in das Zentrum der europäischen Politik gerückt und hat sich zu einem der am schnellsten wachsenden und dynamischsten Politikfelder entwickelt.9 Die schrittweise Einrichtung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) war der Europäischen Union (EU) als neues Ziel durch den Vertrag von Amsterdam (in Kraft getreten am 01. 05. 1999)10 vorgegeben worden, Art. 61 (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) EGV. Hierdurch sollten Akzeptanz und Vertrauen in die EU gestärkt werden.
Die Verpflichtung der Union zu dessen Schaffung „sollte den Sorgen und Ängsten vieler Unionsbürger vor den Risiken Europas, vor der Öffnung der nationalen Grenzen [und] der europaweiten Freizügigkeit (…) Rechnung tragen. Die Union sollte gezielt und mit ausdrücklichem Auftrag auch den Gefahren des von ihr errichteten Raumes ohne Binnengrenzen mit (…) Mio. Einwohnern entgegentreten“11.
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Eine Verwirklichung des RFSR wird angesehen als „einer der anschaulichsten Belege für den Übergang vom Europa der Wirtschaft zu einem politischen Europa, das im Dienst seiner Bürger steht“12.
b) Von der intergouvernementalen Zusammenarbeit zu supranationalen Entscheidungsstrukturen
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Für die Zusammenarbeit im Bereich Polizei und Justiz löste der Vertrag von Lissabon (in Kraft getreten am 01. 12. 2009)13 einen Paradigmenwechsel aus:
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Vor dessen Inkrafttreten war die Zusammenarbeit im Bereich Polizei und Justiz rein intergouvernementaler Natur und basierte auf völkerrechtlichen Verträgen: Der Vertrag von Maastricht (in Kraft getreten am 01. 11. 1993)14 hatte für die EU eine Drei-Säulen-Struktur geschaffen. Neben der „Europäischen Gemeinschaft“ und der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ umfasste die dritte Säule das Politikfeld „Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz“. Rechtsetzungsaktivitäten der EU waren für die Justiz- und Innenpolitik noch ausdrücklich ausgeschlossen worden. Gemeinsame Gesetze konnten deshalb nur durch eigene völkerrechtliche Verträge (sog. Übereinkommen oder Konventionen) geschlossen werden, welche von allen nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden mussten. Im Vertrag von Amsterdam (in Kraft getreten am 01. 05. 1999) wurde dann als einziges Politikfeld der dritten Säule die „Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)“ zugeordnet. Innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren war die Schaffung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) vorgesehen, Art. 61 EGV.
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Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen vollwertiger Bestandteil der EU. Ziele, Grundsätze und den institutionellen Rahmen für diese Zusammenarbeit in der EU enthält seither der Vertrag über die Europäische Union (EUV). Bisherige Bestimmungen des EG-Vertrages wurden in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) überführt und um neue Regelungen ergänzt. EUV und AEUV sind gleichrangig und bilden zusammen nunmehr das sog. EU-Primärrecht, d. h. die EU-Verfassung. Die EU hat die Europäische Gemeinschaft ersetzt, sie ist deren Rechtsnachfolgerin i. S. d. Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV.
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Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) wird in Titel V, Art. 67 bis 89 AEUV geregelt. Kernelemente des RFSR sind die polizeiliche Zusammenarbeit, Art. 87 bis 89 AEUV und die Justizzusammenarbeit in Strafsachen, Art. 82 bis 86 AEUV. Einige der noch in der rein intergouvernementalen Phase der Zusammenarbeit im Bereich Polizei und Justiz geschlossenen völkerrechtlichen Verträge, wie etwa das sog. Schengener Durchführungsabkommen15 (SDÜ), der sog. Prümer Vertrag16 sowie weitere Verträge zwischen den EU-Mitgliedstaaten, wurden in den Rechtsrahmen der EU übergeleitet und inzwischen überwiegend durch neuere EU-Regelungen ersetzt. Andere völkerrechtliche Verträge, wie etwa das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. 04. 195917 und das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. 12. 195718, sind weiterhin eigenständige völkerrechtliche Verträge, die auf der Ebene des Europarats angesiedelt sind und damit bereits räumlich über die EU hinauswirken. Für die EU-Mitgliedstaaten wurden diese Europaratsübereinkommen teilweise durch weiterreichende Vereinbarungen ersetzt.19
c) Zum Begriff des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR)
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Hinter dem Begriff „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR) verbirgt sich zum einen eine politische Idee, aber auch ein vertragliches Vorhaben und ein bereits vorhandener Normbestand.20 Wie sich bereits aus den Erwägungen in der Präambel des EUV ergibt, handelt es sich dabei nicht allein um ein Komplementär zu dem Vertragsziel Binnenmarkt, d. h. also nicht lediglich um einen Ausgleich dafür, dass Kapital, Waren und Personen die Grenzen schneller und einfacher passieren sollen, sondern vielmehr um die unmittelbare Konsequenz des Bekenntnisses der Mitgliedstaaten zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit in diesem Stadium der Integration:21
„(…) in Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, (…) entschlossen, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Vertrags und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu fördern, (…)“.
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Das große Gewicht des Vertragsziels eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ergibt sich zudem aus dem Umstand, dass dieses Ziel in Art. 3 Abs. 2 EUV zu den Hauptzielen der EU gerechnet wird und auf gleicher Ebene mit dem gemeinsamen Binnenmarkt genannt wird. Hierin spiegelt sich die Entwicklung der EU von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer immer engeren Union und einer verfassten Wertegemeinschaft wider.22 Es ist die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass es auf Dauer nicht möglich ist, die grenzüberschreitenden Freiheiten wesentlich zu erhöhen, ohne parallel Sicherheit und Recht grenzüberschreitend zu entwickeln.23
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Dabei handelt es sich bei dem RFSR nicht um drei Räume, sondern um einen einzigen Raum, in dem jeweils die Prinzipien der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gleichermaßen