Handbuch Hamburger Polizei- und Ordnungsrecht für Studium und Praxis. Sven Eisenmenger

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hat der Europäische Rat Laura Codruţa Kövesi als erste Europäische Generalstaatsanwältin ernannt.84 Die EUStA wird als erste unabhängige und dezentrale Staatsanwaltschaft der EU befugt sein, Straftaten gegen den EU-Haushalt wie beispielsweise Betrug, Korruption und schweren grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrug zu untersuchen, strafrechtlich zu verfolgen und vor Gericht zu bringen, Art. 86 Abs. 1, Abs. 2 AEUV.

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      Gesetzgebungskompetenzen im Bereich polizeiliche Zusammenarbeit bestehen für Unterstützungs- und Koordinationsaufgaben für die mitgliedstaatlichen Behörden.85 Hier geht es um die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen, Art. 87 Abs. 2 lit. a AEUV, die Unterstützung in der Aus- und Weiterbildung, die Zusammenarbeit beim Personalaustausch sowie im Hinblick auf Ausrüstungsgegenstände und die kriminaltechnische Forschung, Art. 87 Abs. 2 lit. b AEUV, und gemeinsame Ermittlungstechniken zur Aufdeckung schwerwiegender Formen organisierter Kriminalität, Art. 87 Abs. 2 lit. c AEUV.

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      Eine Intensivierung der operativen polizeilichen Zusammenarbeit ermöglicht Art. 87 Abs. 3 AEUV. Bislang erfolgt die operative Zusammenarbeit insbesondere im Wege der grenzüberschreitenden Observation, der grenzüberschreitenden Nacheile, des Austauschs von Verbindungsbeamten, der Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen und kontrollierter Lieferungen.86 Nun stellt die RL (EU) 2014/41 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen Regelungen zur Beweiserhebung in grenzüberschreitenden Fällen zur Verfügung. Danach kann der Anordnungsstaat eine Ermittlungsanordnung erlassen, aufgrund derer der Vollstreckungsstaat zur Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen verpflichtet wird.87 Dabei gilt der GrundSatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 82 AEUV (dazu näher A.II.1.e.).

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      Die primärrechtliche Grundlage für die Tätigkeit von Europol findet sich seit dem Vertrag von Lissabon in Art. 88 AEUV. Danach hat Europol den Auftrag, „die Tätigkeit der Polizeibehörden und der anderen Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten sowie deren gegenseitige Zusammenarbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der zwei oder mehr Mitgliedstaaten betreffenden schweren Kriminalität, des Terrorismus und der Kriminalitätsformen, die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist, zu unterstützen und zu verstärken“.

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      Die in Art. 16 Abs. 2 AEUV geschaffene Kompetenz für den Datenschutz und den freien Datenverkehr hat sich als (nicht unumstrittenes) Einfallstor für eine teilweise Harmonisierung des mitgliedstaatlichen sicherheitsrechtlichen Datenschutzrechts erwiesen (dazu ausführlich A.II.1.b.).88 Unter Rückgriff auf Art. 16 Abs. 2 AEUV hat die EU im Rahmen des sog. Europäischen Datenschutzpakets 2016/1889 mitgliedstaatliches Datenschutzrecht, insbesondere das der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden durch die DSRL-JI, teilharmonisiert.90

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      Inzwischen ist im RFSR ein komplexes europäisches Recht der inneren Sicherheit entstanden, ein Nebeneinander von nationalstaatlichem Recht, supranationalem Recht und Völkerrecht.91 Dies hat spürbare Auswirkungen in mehreren Rechtsbereichen, so z. B. im Staatsorganisationsrecht, bei den Grundrechten, im Polizeirecht, Strafprozessrecht oder Datenschutzrecht. So dürften etwa nach der Teilharmonisierung des Datenschutzrechts für die mitgliedstaatlichen Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden durch die DSRL-JI (s. dazu A.II.2.) die so geschaffenen mitgliedstaatlichen Normen künftig wohl z. T. an den Unionsgrundrechten zu messen sein. Auf eine Vollharmonisierung im Bereich der DSGVO hat das BVerfG Ende 2019 mit einer geradezu spektakulären Rechtsprechungsänderung reagiert: Es überprüft die Anwendung vollharmonisierten Rechts durch die deutsche Gewalt nun am Maßstab der Unionsgrundrechte (dazu näher A.II.2.c.). Auf die Kompetenzverteilung im Deutschen Bundesstaat hat die Rechtsentwicklung im RSFR ebenfalls Einfluss: Hier ist ein Trend zur „Entförderalisierung“92 durch Kompetenzverlust der Bundesländer zu verzeichnen, indem der Spielraum der Bundesländer für die Regelung des Polizeirechts durch europäische Regelungen verkleinert wird.93 Auf die Frage, wer die Gesetze vollzieht (Bund oder Länder), wirkt sich die zunehmende „Transnationalisierung“ ebenfalls aus: Denn Anlaufstellen für europäische Kooperationen sind meist Bundesbehörden, als zentrale Knotenpunkte internationaler Vernetzung der Polizeibehörden.94

       a) Vorbemerkung

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      In der Rechtsetzungspraxis im Bereich des RFSR am meisten Anwendung finden die unmittelbar und allgemein geltenden Verordnungen, die Richtlinien, die hinsichtlich der Ziele verbindlich sind und zunächst von den Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht umgesetzt werden müssen, sowie die Beschlüsse der EU-Organe. Auf Grundlage der primärrechtlichen Zuständigkeiten der EU im Bereich des RFSR wurde eine Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien erlassen.

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      Wegen der besonderen Bedeutung für die Europäisierung des Rechts der inneren Sicherheit wird hier die DSRL-JI (Richtlinie [EU] 2016/680 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI)95 als Teil der Datenschutzreform von 2016 kurz behandelt. Diese soll „zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen“96.

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      Die DSRL-JI ist Teil eines Datenschutzreformpakets, das auch die deutlich bekanntere Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)97 umfasst. Um die DSRL-JI umzusetzen, waren/sind sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene hunderte betroffene Gesetze anzupassen, so etwa das Bundeskriminalamtsgesetz98, das Bundesdatenschutzgesetz99, die Strafprozessordnung100, das Bundespolizeigesetz101 und viele mehr. Auch auf Ebene der Länder waren zahlreiche Datenschutz- und Polizeigesetze102 anzupassen.

       b) Kompetenzgrundlage

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      Die DSRL-JI wurde unter Bezugnahme auf die EU-Kompetenz in Art. 16 Abs. 2 AEUV (Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und über den freien Datenverkehr) verabschiedet.103 Diese Kompetenzgrundlage ist nicht unumstritten, auch wenn – anders als etwa bei der DSGVO – vergleichsweise wenig davon von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde: Kritiker verweisen auf den Annexcharakter des Datenschutzrechts. Die EU dürfe nur dann Gesetze über den Schutz natürlicher Personen bei der mitgliedstaatlichen Verarbeitung der benötigten personenbezogener Daten erlassen, wenn auch der Bereich, für den Daten verarbeitet werden, dem Unionsrecht unterfällt.104 Wer den bereichsspezifischen Datenschutz im Polizeirecht reguliere, reguliere auch das Polizeirecht. Denn im Polizeirecht sei das bereichsspezifische Datenschutzrecht vom Fachrecht gar nicht mehr zu trennen. Der Datenschutz löse hier einen „Kompetenzsog der EU“ aus.105 Durch die DSRL-JI finde zudem eine Teilharmonisierung im Bereich der inneren Sicherheit (Polizeirecht, Strafrecht) statt, der grundsätzlich der mitgliedstaatlichen Souveränität unterliege.106 Einige nationale Parlamente hatten aufgrund dieser Befürchtung im Vorfeld


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