Internetkriminalität. Manfred Wernert
dem man sich ähnlich wie in einem dreidimensionalen Raum aufhalten und im Austausch mit anderen Nutzern neue Erfahrungen sammeln kann. Die Aussage „immer mehr Straftaten finden nicht mehr auf der Straße, sondern im Internet statt“ erweckt dabei den Eindruck, das „Internet“ sei ein Raum eigener Art, der als Tatort in der gleichen Weise in Betracht kommt wie „die Straße“. Dass das Internet keinen eigenen Erlebnisraum eröffnet, sondern lediglich das Medium für neue, erweiterte Informations- und Kommunikationsformen darstellt, dürfte indes heute – ungeachtet eines nach wie vor abweichenden Sprachgebrauchs – weitgehend Allgemeingut sein. Für die kriminologische Analyse sollte der die Zusammenhänge verklärende Kunstbegriff des „Cybercrime“ deshalb eher vermieden werden.54
Die Erklärung der Internetkriminalität scheint ohne Anleihen bei den herkömmlichen Kriminalitätstheorien nicht auszukommen. Vertiefende Analysen der Zusammenhänge mit Risiko- und Schutzfaktoren oder den Auswirkungen der im Internet begangenen Straftaten sind noch Mangelware.55
Der Gesichtspunkt der Kontrolle spielt sicherlich eine herausgehobene Rolle, so die fehlenden Selbstschutzmaßnahmen der Geschädigten (z. B. Phishing), die nicht ausreichenden Überwachungsmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden bei den abstrakten Gefährdungsdelikten (z. B. Kinderpornografie) oder die eingeschränkte Selbstkontrolle der Täter. Auch Kosten-Nutzen-Erwägungen auf der Täter- wie der Opferseite, z. B. der Aufwand bei der legalen Beschaffung von immateriellen Gütern wie Filmen und Musik oder der Aufwand bei der Installation von Sicherheitssoftware, ebenso Lerneffekte, Neutralisierungsmechanismen und Routineaktivitäten, sind von Bedeutung.56
In einem Erklärungsmodell müssen auch die Besonderheiten integriert werden, die sich aus der Nutzung der IuK-Technik als Tatmittel ergeben. Warum ist gerade das Internet für die Begehung von Straftaten ein so geeignet erscheinendes Medium?
Welche Umstände erleichtern die Tatbegehung gegenüber Taten in der „realen“ Welt? Im Zusammenhang mit Cybersex57 wird das Internet als „Triple-A-Engine“ bezeichnet – gekennzeichnet durch Verfügbarkeit (accessability), Erschwinglichkeit (affordability) und Anonymität (anonymity). Die durch das Netz geschaffene Distanz zwischen Täter und Opfer mit ihren Folgen sowohl beim Täter als auch beim Opfer (Herabsetzung von Hemmschwellen, Verdrängung der Gefahr) bedürfen der Thematisierung. Täter- und Opferrollen werden durch Zwischenschaltung des Mediums Internet undeutlicher – wer ist bei dem Umgang mit Kinderpornografie der Täter – derjenige, der das Material über das Internet verbreitet, der es herunterlädt, oder beide? Wer ist bei DDos-Angriffen das Opfer? Derjenige, auf dessen PC ein Botnetz installiert wird, derjenige, dessen Server lahmgelegt wird, oder beide?
Welche Auswirkungen hat die im Internet erfahrene Viktimisierung auf die Opfer? Ist „Cyberbullying“ oder die nicht rückgängig zu machende Verbreitung identifizierenden pornografischen Bildmaterials wegen der weltweit unbegrenzten Wahrnehmbarkeit durch Dritte für die Betroffenen ein stärkerer Eingriff, als es vergleichbare Taten in der „realen“ Welt sind? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Untrennbarkeit der erfahrenen Demütigung für die Opferbehandlung und die Prävention?
Die Fragen zeigen, dass die kriminologische Auseinandersetzung noch ganz am Anfang steht.58
„Gamecrime und Metacrime“59 bezeichnen Kriminalität im Zusammenhang mit virtuellen Spielwelten. Es handelt sich um Straftaten im Zusammenhang mit Online-Rollenspielen (Games), wie z. B. „World of Warcraft“, „Herr der Ringe Online“ und „Second Life“. Je nach Modus Operandi werden Meinungsäußerungsdelikte, Vermögensdelikte und Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen.
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