Vom Stromkartell zur Energiewende. Peter Becker
kollidierte mit den kommunalen Interessen. Den drei großen Stromvertrags-EVU RWE, Bayernwerk und PreussenElektra boten nämlich die Stromverträge in ihren beiden Teilen die Möglichkeit, ein stromwirtschaftliches Kartell sozusagen von der holländischen bis zur polnischen Grenze mit Durchgriff von der Stromerzeugung bis hin zur Versorgung der letzten Glühbirne in jeder Gemeinde zu schaffen. Pläne zu einem „bisher unrealistischen elektrizitätswirtschaftlichen Imperialismus, gedacht auch in Richtung Osteuropa“ reiften.57 Man wähnte eine große Renaissance alter Zeiten vor sich und wollte daher in den Stromverträgen keinerlei Konkurrenz und keine Schlupflöcher zulassen. Die Stromvertrags-EVU teilten daher die Regional-EVU in von ihnen geschaffenen Kunstbezirken untereinander auf und schlossen untereinander Abgrenzungs-, sogenannte „Demarkationsverträge“. Man wollte sich seine Kundschaft nicht streitig machen und den Wettbewerb untereinander auf Dauer ausschließen.
Allerdings gab es im letzten Moment noch einen unerwarteten Querschläger. Das große Geschäft hatten nämlich zunächst die „drei Großen“ unter sich ausmachen wollen; die Beteiligung der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW), der Berliner BEWAG, der Vereinigten Elektrizitätswerke (VEW), der Energieversorgung Schwaben und des Badenwerks war nicht vorgesehen. Da bekam Roland Farnung, Chef der HEW, das Vertragswerk in die Hände. Im Schreiben an die Chefs der großen Konkurrenten drohte er damit, das Bundeskartellamt einzuschalten.58 Diese Drohung hätte verfangen: Das Bundeskartellamt wollte nämlich einen „Ausnahmebereich“ in einem künftigen Teil Deutschlands überhaupt nicht erst entstehen lassen.59 Das Amt konnte zwar das Amt für Wettbewerbsschutz der DDR prinzipiell von seiner wettbewerbspolitischen Auffassung überzeugen. Es drohte mit einem Fusionskontrollverfahren. Allerdings war klar, dass bei einer eventuellen Untersagung ein Ministererlaubnisverfahren ins Haus gestanden hätte. In informellen Verhandlungen mit der Treuhandanstalt konnte erreicht werden, dass die Wettbewerbsstruktur in der DDR wenigstens „nicht schlechter“ als diejenige in der BRD ausgestaltet wurde.60 Präsident Kartte „schmerzte die vertane Jahrhundert-Chance“ bei der Neuordnung der Elektrizitätswirtschaft der DDR. Staatssekretär Pautz versicherte auf der anderen Seite, „wäre es nach uns gegangen, ... dann hätten wir den Dreien alles gegeben“.61
In dieser komplexen Situation schlugen sich die Konzerne auf die sichere Seite und nahmen die fünf kleinen Schwestern in das – jetzt – Achterkartell auf: Nunmehr kam es tatsächlich zu einer Aufteilung der DDR:
– PreussenElektra erhielt die Kombinatsnachfolger HEVAG mit Sitz in Rostock, die EMO mit Sitz in Neubrandenburg, die Mecklenburgische Elektrizitätsversorgung AG (MEVAG) mit Sitz in Potsdam;
– RWE erhielt die Energieversorgung Spree/Schwarze Elster AG (ESSAG) mit Sitz in Senftenberg, die Oder-Spree-Energieversorgung AG (OSE) mit Sitz in Frankfurt/Oder, die Westsächsische Elektrizitätsversorgung Mitteldeutschland AG (WEMAG) mit Sitz in Markkleeberg bei Leipzig;
– das Bayernwerk die Elektrizitätsversorgung Nordthüringen AG (ENAG) mit Sitz in Erfurt, die Ostthüringer Energieversorgung (OTEV) mit Sitz in Jena und die Südthüringer Energieversorgung AG (SEAG) mit Sitz in Meiningen, eine Art Thüringer Fürstentum,
– VEW erhielt die Mitteldeutsche Energieversorgung AG (MEAG) mit Sitz in Halle;
– die zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) fusionierten EVS und Badenwerk erhielten die ESAG mit Sitz in Dresden;
– die Hamburger Elektrizitätswerke erhielten die Westmecklenburger Elektrizitätsversorgung AG (WEMAG) mit Sitz in Schwerin;
– die BEWAG erhielt die Elektrizitätsversorgung Berlin AG (EBAG).
Am 22.8.1990 wurden die Stromverträge unterschrieben.
5. Der Widerstand im Westen
Allerdings entstand auch innerhalb der staatlichen Seite Widerstand. Das Saarland stellte am Tag der Unterzeichnung der Stromverträge auf einer Pressekonferenz eine Dokumentation vor: Darin setzte es sich – aus umwelt- und wettbewerbspolitischen Gründen sowie aus Sorge um ein sprunghaftes Ansteigen der Bundeskompetenz im Energiebereich zu Lasten der Länder – kritisch mit den Stromverträgen auseinander. Aber auch alle im Bundestag vertretenen Parteien, die wichtigsten Gewerkschaften, kommunale Verbände und insbesondere der Verband der Stadtwerke, der VkU, sowie alle Bundesländer hatten sich noch im September und Anfang Oktober 1990 vehement gegen die Stromverträge ausgesprochen und teilweise ihre Rechtswidrigkeit herausgestrichen. Am 19.9.1990 beschloss die Wirtschaftsministerkonferenz der Bundesländer in Würzburg einstimmig:
„Die Länder der Bundesrepublik Deutschland werden alle Möglichkeiten der fachlichen und juristischen Unterstützung in der DDR nutzen, um jedenfalls teilweise die Bildung von Stadtwerken möglich zu machen. Gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag, dem Verband kommunaler Unternehmen und dem Städte- und Gemeindebund werden die Länder prüfen, ob zumindest die Städte in der DDR, die früher Stadtwerke hatten und durch den DDR-Staat enteignet wurden, einen Rechtsanspruch auf volle Übertragung der Energieanlagen in ihrem Gemeindebereich haben. Weiter ist zu prüfen, ob die Gemeinden in der DDR Rechtsansprüche auf die Übertragung der Gas- und Fernwärmenetze haben. Schließlich muss geprüft werden, ob die form- und fristgerecht gestellten Anträge der Städte und Gemeinden in der DDR auf Übertragung der Energieanlagen in ihrem Gemeindegebiet gemäß Kommunalvermögensgesetz auch nach Inkrafttreten des Einigungsvertrags vom 31.8.1990 zu erfüllen sind.“
In praktischer Ausführung der Beschlüsse von Würzburg unternahmen insbesondere die Länder Schleswig-Holstein, Bremen, Niedersachsen, Hessen und das Saarland systematische Beratungsaktionen in der DDR gegen die Stromverträge und für die Stärkung der kommunalen Rechte im Energiebereich. Dr. Spreer, Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium das Saarlandes, versandte bis 1991 insgesamt sechs Rundschreiben mit umfangreichen Anlagen an alle DDR-Städte über 10.000 Einwohner – immerhin 230 Städte – und trug damit dazu bei, dass die Ost-Städte nicht alles glauben mussten, was die Stromvertrags-EVU behaupteten; so das Bayernwerk im September 1990 in Thüringen: „Wenn das Kommunalvermögensgesetz bleibt, gehen die Lichter aus.“
Allmählich aber ließ der Widerstand nach, insbesondere in den alten Bundesländern, die Sitzländer der Stromvertrags-EVU sind. Es wurde nämlich sehr rasch klar, dass mit den Stromverträgen nicht nur ein gravierendes Größenwachstum der Konzerne verbunden war, sondern eine willkommene Gelegenheit, die westlichen Überkapazitäten bei Kraftwerken dem Osten zur Verfügung zu stellen, verbunden mit der Möglichkeit, von den Ostkunden westliche Strompreise zu erhalten. Denn der exportierte Strom wurde in den ohnehin vorhandenen und nicht ausgelasteten Anlagen produziert.
Man erwartete einen dauerhaften Milliardentransfer von Ost nach West. Um dies zu verschleiern, beeilten sich die Stromvertrags-EVU, auf die Schwierigkeit der Aufgabe im Osten hinzuweisen – und hatten damit Erfolg. Allerdings fanden intensive Diskussionen insbesondere über die Rolle der Kommunen statt, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Buch über den Einigungsvertrag62 dargestellt hat:
„Im Spitzengespräch des Bundeskanzlers mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden am 26. August kam noch ein zweites Thema zur Sprache, das nur indirekt mit dem Einigungsvertrag zu tun hatte, nämlich die künftige Stromversorgung der DDR. Nach seriösen Schätzungen erforderte die umweltverträgliche Sanierung der maroden Elektrizitätsversorgung mit ihren defekten und leistungsschwachen Leitungssystemen, ihren veralteten und lebensgefährlichen Reaktoren und ihren stinkenden und kostenträchtigen Braunkohlekraftwerken Investitionen von mindestens 30 bis 40 Milliarden Mark. Die DDR-Elektrizitätswirtschaft und der Braunkohlebergbau zählten über 220.000 Beschäftigte.
Am 22. August schien das Problem gelöst. Die drei großen westdeutschen Energieversorgungsunternehmen Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk, Bayernwerk und PreussenElektra hatten mit der Regierung der DDR und der Treuhandanstalt den sogenannten Stromvertrag abgeschlossen. Auch wenn diese große Lösung von Anfang an wettbewerbspolitisch umstritten war, wurde auf diese Weise mit einem Schlag das Stromversorgungssystem der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR übertragen – im Interesse der raschen Sanierung der desolaten