Vom Stromkartell zur Energiewende. Peter Becker
marktbeherrschende Position in den neuen Länder nicht durch den Stromvertrag garantiert worden wäre.
Wir von der Bundesregierung beruhigten unser marktwirtschaftliches Gewissen: Ausgerechnet in dieser Situation in der DDR mehr Wettbewerb als bei uns verwirklichen zu wollen, das wäre vermessen gewesen. Und woher hätten die Städte und Gemeinden der DDR das Geld für die Kommunalisierung der Energieversorgung nehmen sollen? In dem Stromvertrag war daher nur eine Minderheitsbeteiligung der Kommunen an bestehenden regionalen Energieversorgungsunternehmen in der DDR vorgesehen.
Das Saarland war von Anfang an gegen diesen Stromvertrag Sturm gelaufen mit dem Argument, hier werde die Chance einer dezentralen Energiepolitik verletzt. Nach Auffassung der SPD und der von Politikern dieser Partei geführten Länder sollte die Zuständigkeit der Gemeinden die Organisation dezentraler Strukturen in der Kraftwerkswirtschaft ermöglichen. Lafontaine behauptete, er habe im Saarland auf diese Weise umweltverträgliche Lösungen wie eine verstärkte Nutzung der Kraftwärmekopplung gefördert. In einem Brief hatte mir schon Wochen zuvor der Saarbrückener Staatskanzleichef Kopp empfohlen, diese im Saarland erprobten Strukturen auch für den ökologischen Neuanfang in der DDR zu nutzen.
In dem Gespräch mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden am 26. August argumentierte der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel aus der Sicht eines Kommunalpolitikers – und fand volle Unterstützung beim früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und Ludwigshafener Stadtverordneten Helmut Kohl. Den Gemeinden, auch den großen Städten, so Vogel, werde durch den Stromvertrag für eine sehr lange Zeit unmöglich gemacht, über ihre Energieversorgung eigenverantwortlich zu entscheiden. Sie verlören ihre Ortsnetze an die westdeutschen Konzerne. Die Minderheitsbeteiligung an den regionalen Versorgungsunternehmen, begrenzt auf den Wert ihrer früheren Ortsnetze, sei kein Ausgleich, sondern de facto eine Sperre. Die Städte müssten wie bei uns selber entscheiden können, ob sie ihr Ortsnetz zurückverlangen und auf Ortsebene tätig werden oder ob sie eine Kapitalbeteiligung wählen wollten. Aus dem Energieproblem war ein Streit um den Stellenwert der kommunalen Selbstverwaltung in der früheren DDR geworden. Der Bundeskanzler gab dem Oppositionsführer recht: Er sei Vogels Meinung, die Kommunen müssten gestärkt werden.
Verträge mit den Energieversorgungsunternehmen gehören mit zum Kompliziertesten, und in aller Regel werden sie auch gar nicht transparent gemacht. So war auch der Stromvertrag im Detail uns allen unbekannt. Weil vom Bundeswirtschaftsministerium bei dem Gespräch am Sonntagabend im Kanzleramt niemand anwesend war, telefonierte ich den zuständigen Staatssekretär von Würzen herbei. Er gab uns sachkundige Informationen zu dem Thema, das dann einer Arbeitsgruppe überwiesen wurde. Helmut Kohl bat den Beamten, er möge in Gesprächen mit den Vertragspartnern für Nachbesserungen zugunsten der Kommunen sorgen.
Wie gesagt: Der Stromkontrakt stand nur in einem indirekten Zusammenhang mit den Einigungsvertrag. Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sah grundsätzlich die Übertragung des gesamten DDR-Vermögens auf die Treuhandanstalt vor. Artikel 21 und 22 des Einigungsvertrages regeln die Aufteilung des Verwaltung- und Finanzvermögens auf die Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Vertrag sieht überdies die Fortgeltung des Kommunalvermögensgesetzes der DDR vor – mit Maßgaben, die sicherstellen, dass dieses Gesetz im Einklang mit den beiden genannten Artikeln im Einigungsvertrag steht. Der Vertrag der Stromversorger mit der Treuhand machte es nun erforderlich, für die Energieversorgung eine Ausnahme von den Vorschriften dieses Kommunalvermögensgesetzes festzuschreiben. Auf separate Übernahmeverhandlungen mit einer Vielzahl von DDR-Kommunen hätten sich die Konzerne – verständlicherweise – nicht eingelassen.
Auch im Gespräch Helmut Kohls mit den Ministerpräsidenten stand das Thema auf der Tagesordnung. Man war sich einig, dass bei aller Sorge um die Rechte der Kommunen der nächste Winter nicht vergessen werden durfte. Die Stromkonzerne bestanden auf der wirtschaftlichen Führungsrolle in einem Geschäft, das 30 bis 40 Milliarden an Investitionen abforderte. Staatssekretär von Würzen wies darauf hin, dass die Treuhand nicht nur an die großen Drei (RWE, Bayernwerk, PreussenElektra) verkauft habe. An der sogenannten Verbundstufe, also dem Höchstspannungsnetz und der überregionalen Stromversorgung, sowie an jeweils 51 Prozent von den 15 Regionalgesellschaften der DDR seien auch die kommunalen Dortmunder VEW, die Hamburger HEW, EVS, Badenwerk und Bewag beteiligt. Im Übrigen gewährleistete das mit dem Einigungsvertrag übernommene Kommunalverfassungsgesetz der DDR den Kommunen das Recht, eigene Stadtwerke zu gründen und ihr Gemeindegebiet mit Strom zu versorgen. Doch von Würzen ließ auch keinen Zweifel an der entschiedenen Haltung der westdeutschen Konzerne aufkommen: Er zweifele nicht, dass diese von dem Stromvertrag zurückträten, wenn sie ihre Kapitalmehrheit an der DDR-Elektrizitätswirtschaft verlören. Wir konnten es drehen und wenden, wie wir wollten – ohne die Konzerne würde es im bevorstehenden Winter ziemlich kalt werden in den neuen Ländern.
Vogel führte nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrages im Ausschuss „Deutsche Einheit“ noch einmal ein Nachhutgefecht. Er bestätigte den Abgeordneten, in dem Spitzengespräch mit dem Kanzler hätten alle übereinstimmend die Eigenverantwortung der Städte und Gemeinden gewünscht. Doch die Mehrheit hätte das Risiko der Vertragskündigung durch die Konzerne „sehr ernst genommen“. Die SPD sei anderer Auffassung und daher auch bereit gewesen, dieses Risiko im Interesse der Städte und Gemeinden der DDR auf sich zu nehmen.
Diese Distanzierung des Oppositionsführers konnte ich nicht unwidersprochen lassen. Namens der Bundesregierung gab ich unsere Überlegungen zu Protokoll, die uns letztlich doch den Vertrag befürworten ließen: „ Wir haben auch nach intensiven Gesprächen während der Verhandlungen mit den Energieversorgungs-Unternehmen nicht die Verantwortung übernehmen wollen, ein Scheitern dieses Stromvertrags zu riskieren. Deswegen haben wir uns in dieser Güterabwägung für etwas entschieden, was auch von uns selbst durchaus mit kritischen Anmerkungen versehen wird.“
Die Absicherung der Stromverträge erfolgte mit Hilfe einer unscheinbaren Regelung, der Ergänzung zum § 4 Abs. 2 Kommunalvermögensgesetz (KVG) in der Fassung der Volkskammer, der wie folgt lautete:
„Sofern Betriebe und Einrichtungen, die nach den Grundsätzen dieses Gesetzes in kommunales Eigentum überführt werden müssen, bereits in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden sind, gehen die entsprechenden ehemals volkseigenen Anteile in das Eigentum der Gemeinden und Städte über.“
Es wurde eine sogenannte Maßgaberegelung hinzugefügt. In ihr heißt es wie folgt:
„Soweit die Summe der Beteiligungen der Gemeinden, Städte und Landkreise 49 v.H. des Kapitals einer Kapitalgesellschaft für die Versorgung mit leitungsgebundenen Energien überschreiten würde, werden diese Beteiligungen anteilig auf diesen Anteil gekürzt.“
Diese Maßgaberegelung baute auf der Vorstellung auf, dass die Kommunen durch § 4 Abs. 2 S. 1 KVG zu 100-prozentigen Kapitaleignern der Regionalversorgungsunternehmen geworden seien oder dass ihnen zumindest ein Anspruch auf Entflechtung und Zuordnung des kommunalen Versorgungsvermögens zustehe, wie der Abg. Nooke in der Volkskammer vorgetragen hatte. Die Regelung beschränkte die Kommunen auf die Position von Minderheitsaktionären, eröffnete damit den Weg für die Übertragung der Mehrheitsanteile auf die westdeutschen EVU und beseitigte den Anspruch der Kommunen auf Übertragung der Vermögenswerte für die kommunale Versorgung.
Der Einigungsvertrag war allerdings nicht aus einem Guss, was die Entrechtung der Kommunen anging. Da waren zum einen die Artikel 21 und 22 über die Zuordnung ehemals volkseigenen Vermögens mit Bestimmungen dazu, wie Rückgewähransprüche zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts wegen früheren unentgeltlichen Vermögensentzugs zu behandeln sind. Artikel 21 befasst sich mit dem Verwaltungsvermögen, also dem Vermögen der DDR, das unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient. Darauf gestützt mussten die Kommunen ihr Versorgungsvermögen als Verwaltungsvermögen beanspruchen können – sollte man meinen. Artikel 21, der das Finanzvermögen regelt, betrifft das Vermögen, das nicht unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient, sondern der öffentlichen Verwaltung mittelbar durch sein Kapitalwert dient. In diesem Fall besteht ein Restitutionsanspruch auf das Finanzvermögen.