Vom Stromkartell zur Energiewende. Peter Becker
blieben „gegnerfrei“, während die ängstlichen Beteiligungen akzeptierten, vor allem der Regionalversorger. Immerhin war damit die Intention des Treuhandgesetzes verwirklicht – ein großer Erfolg, der freilich in der ganzen Diskussion um die THA keine Rolle spielt. Aber er lief ja auch an ihr vorbei und war Angelegenheit von – danach – freundschaftlich verbundenen „Ossis“ und den Beratern aus dem Westen.
Wunderbar.
65 Der Tagesspiegel vom 1.3.2015. 66 Böick, Die Treuhand, Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, 2. Aufl. 2018 (Diss.). 67 Signal zum Bleiben, in: Die ZEIT, 19.11.1990, zit. n. Böick, S. 164. 68 Böick, S. 168. 69 Elektrizitätswirtschaft (EW) 2005, Heft 21/22, 80ff.
14. Kapitel
Die Liberalisierung der Energiemärkte
Die Einführung von Wettbewerb sollte den Verbrauchern etwas bringen: Eine Vielzahl von Anbietern, bessere Versorgung und vor allem bessere Preise – sollte man meinen. In der Energiewirtschaft war alles anders. Die Liberalisierung der Energiemärkte wurde von Brüssel erzwungen. Deutschland wäre aus eigener Kraft wohl nie zur Einführung von Wettbewerb fähig gewesen. Aber die Lobbyisten schlugen schon bei der Konzeption der Richtlinien zur Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte zu. Die Einführung von Wettbewerb hätte vorausgesetzt, dass die nationalen Monopolisten privatisiert und dabei so entflochten worden wären, dass Wettbewerb möglich würde. Davon war aber keine Rede. Im Gegenteil: In Deutschland nutzten die Konzerne die Möglichkeit zu „Großfusionen im engen Oligopol“, wie der Kartellrechtler Möschel schrieb.70 So wuchs die Macht der Konzerne ins Schrankenlose. Auch die Einführung des Börsenhandels für Energie wurde von den Konzernen genutzt. Sie strickten sich die Börse so, dass die Preise gesteuert werden konnten. Zwar gab es zu Beginn der Liberalisierungsphase einen Betriebsunfall: EnBW und RWE lieferten sich Wettbewerb aus Gründen, die sie im Nachhinein sicherlich lieber ungeschehen gemacht hätten. Aber danach wurde umso konsequenter reiner Tisch gemacht. Die Verbraucher hatten keine Chance.
1. Vorspiel I in Deutschland
Monopole für die Energiemärkte waren eigentlich durch das Kartellverbot des Art. 85 und das Missbrauchsverbot des Art. 86 im EWG-Vertrag von 1956 von Anfang an verboten. Denn einen Ausnahmebereich für die Energiemärkte gab es – anders als im deutschen Kartellrecht – nicht. Erst im Jahr 1988 packte die „Iron Lady“, die britische Premierministerin Thatcher, ermutigt durch die US-amerikanische Vorreiterrolle, in England die Liberalisierung der Energiemärkte an. Das wichtigste Instrument war der „Third Party Access“ (TPA), der Netzzugang für Dritte. Die Eigentumsrechte der Netzbetreiber sollten zurückstehen. Mit dem „Utilities Act“ wurden die Privatisierung der staatlichen Energieversorger und das Unbundling, die Entflechtung der Handels- und Netzaktivitäten, angeordnet. OFFER, ein Elektrizitätsregulierer, und OFFGAS wurden installiert, die sich in jeden Geschäftsbereich des Versorgungsunternehmens einmischen könnten. Die Erfahrungen waren allerdings nicht durchweg positiv. Die Interessen der Kunden zu schützen und gleichzeitig den Wettbewerb zu entwickeln, sei, so OFFGAS, nicht immer möglich.71
Die entscheidenden Anstöße zur Liberalisierung der Energiemärkte gingen von der EU aus. Schon mit Art. 37 EWG-Vertrag waren Einfuhr- und Ausfuhrmonopole ab dem 1.1.1970 verboten worden. Auf ihrer Grundlage hatte die Kommission gegen eine Reihe von Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren wegen der Beibehaltung von Einfuhr- und Ausfuhrmonopolen für Elektrizität und Gas eröffnet. Auf Basis des britischen Beispiels setzte die Europäische Kommission 1990 bzw. 1991 die Transitrichtlinien für Elektrizität72 und Gas73 mit Beschlüssen des Ministerrates durch. Am 22.1.1992 folgten Vorschläge für eine Elektrizitäts- und eine Erdgasrichtlinie.74 Vorgesehen wurden drei Schwerpunkte nach dem britischen Beispiel: Zwangsdurchleitung per Netzzugang für Dritte, Kostentransparenz und Unbundling.75 Pluge76, Geschäftsführer des Bundesverbandes Gas- und Wasserwirtschaft (BGW), prangerte das als „Umkrempelung fast des gesamten ordnungspolitischen Rahmens beider Branchen und durch die kafkaesk anmutenden Detailregelungen“ an. Totale Liberalität und totale Regulierung gingen in ihren Extremen ineinander über.
Zuvor hatte Kurt Markert, der Vorsitzende der 8. Beschlussabteilung für die Energiemärkte beim Bundeskartellamt, in einem Vortrag77 „gewisse grundsätzliche Vorkehrungen“ von der EG-Kommission gefordert. Dazu gehörte z.B. schon die Frage, ob ausschließliche Konzessionsverträge für die Strom- und Gasversorgung, nach denen die Versorgung in einem bestimmten Gebiet ausschließlich einem Versorger vorbehalten war, überhaupt unter Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag fielen und ob und ggf. in welchem Umfang die Kommission zu Freistellungen nach Art. 85 Abs. 3 EWGV in diesem Bereich bereit sei. Dahinter stand die Befürchtung, dass die Kommission möglicherweise ein Vorpreschen einer nationalen Kartellbehörde durch eine derartige Freistellung ins Aus schicken könnte.
Markerts Hilferuf wurde erhört. In einem Vortrag78 erläuterte Ehlermann, der (deutsche) Leiter der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission, die Richtlinien: Monopole für Übertragung und Verteilung von Energie seien nicht zu rechtfertigen, ebenso wenig ausschließliche Rechte für die Erzeugung von Elektrizität und den Bau von Leitungen. Insbesondere sei die Funktionentrennung (Unbundling) geboten, die schon mit der Telekommunikationsendgeräte-Richtlinie der Kommission vom Mai 1988 vorgeschrieben worden war. Diese hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) ausdrücklich gebilligt.79 Vor allem verwies er darauf, dass die Wettbewerbsbehörden schon vor dem Erlass eines „gesetzgeberischen Aktes“ des Rates zur Anordnung von Durchleitungen berechtigt seien. Die Verweigerung der Durchleitung stelle einen Missbrauch nach Art. 86 dar. Auch Konzessionsverträge, die das ausschließliche Recht zur Verlegung und zum Betrieb von Leitungen einräumten, seien wettbewerbsbeschränkend und fielen unter Art. 85 EGV. Zwar könnten nach Art. 85 Abs. 3 wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen vom Kartellverbot freigestellt werden. Jedoch sei es „undenkbar, dass sie ein Verhalten freistellt, das als missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren wäre“. Die Richtlinien schüfen daher nicht neues Recht, sondern sollten lediglich „politischen Konsens an die Stelle einer Vielzahl von langwierigen juristischen Auseinandersetzungen vor dem Gerichtshof in Luxemburg treten lassen“.
Das war der Startschuss für das Bundeskartellamt. Aufgegriffen werden sollten Konzessionsverträge an der Bundesgrenze, die die Einfuhr billigerer Energie aus Mitgliedstaaten nach Deutschland behinderten. Der erste Angriff auf den Gebietsschutz sollte an der deutsch-französischen Grenze in Kehl starten. Er wurde aber wegen der bekannten Abneigung der Electricité de France gegen Direktbelieferung deutscher Verbraucher aufgegeben. Aufgegriffen wurde vielmehr ein Konzessionsvertrag des RWE-Konzerns mit der Stadt Kleve aus dem Jahr 1971, mit dem die ausschließliche Belieferung der 50.000 Einwohner und der Industrie Kleves über 55 Jahre festgelegt worden war. Der wirtschaftliche Vorteil für die Kunden in Kleve wäre bemerkenswert gewesen: Industriekunden mussten seinerzeit fast 28 Pf/kWh bezahlen, während der angrenzende niederländische Versorger nur 19,1 Pf/kWh verlangte. Es sollte „ein Pilotfall“ werden, sagte Markert. Erstmalig habe sein Haus auf Art. 85 des EWG-Vertrags zurückgegriffen. Bundeskartellamts-Präsident Wolf sekundierte, es handele sich um ein „wichtiges und grundsätzliches Pilotverfahren mit Domino-Effekt“. Mit der EG-Kommission habe man sich abgesprochen. Allerdings lief der attackierte Konzessionsvertrag wie alle sogenannten „Altverträge“ nach § 103a Abs. 4, der mit der 4. GWB-Novelle eingeführt worden war, nur bis Ende 1994. Hieran scheiterte schließlich das Bundeskartellamt: RWE meldete nämlich den Konzessionsvertrag – trotz der Ankündigung des EG-Wettbewerbs-Hüters Ehlermann – bei der Kommission an, um nach Art. 85 Abs. 3 EWGV eine Freistellung zu erreichen. Das führte zu einem Wechsel der Zuständigkeit; das Bundeskartellamt musste den Fall nach Brüssel abgeben. Der Vertrag wurde dann 1994 nicht mehr verlängert,