Vom Stromkartell zur Energiewende. Peter Becker
Erschließung von Mitteldeutschland. Später kam der größte unterirdische Erdgasspeicher Westeuropas im niedersächsischen Rehden dazu. Dann baute die WINGAS zusammen mit E.ON die Ostsee-Pipeline Nord Stream; Vorsitzender des Aktionärsgremiums dieser Gesellschaft ist Gerhard Schröder, ferner die Norddeutsche Erdgasleitung (NEL) und die Ostsee-Pipeline-Anbindungs-Leitung (OPAL). Das waren unternehmerische Entscheidungen erster Güte – aber sie trafen auf ein geschlossenes Netz von langfristigen Gaslieferverträgen der etablierten Konkurrenz, insbesondere Ruhrgas, BEB, GVS etc. Diese Unternehmen wollten ihre Verträge nicht nur mit rechtlichen Mitteln verteidigen. Stadtwerke, die auch nur im Ansatz Überlegungen erkennen ließen, den Versorger zu wechseln, erhielten Rabatte und Bargeldzahlungen, getarnt als „Marketing-Zuschüsse“. Für die WINGAS war der Markteintritt also gar nicht einfach.
Da trat ein anderer wagemutiger Stadtwerks-Chef auf den Plan, Dieter Attig, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Aachen AG (STAWAG). Auch die STAWAG verfügte über einen langfristigen Gasliefervertrag, und zwar bei der RWE-Tochter Thyssengas. Die Thyssengas war nicht bereit, Gasmengen freizugeben und folgte damit der Verschwörung der Gaswirtschaft. Die STAWAG ließ sich aber, rechtlich beraten, auf das Risiko ein und bestellte Gas in erheblichen Mengen bei der WINGAS – wohl wissend, dass die Klage der Thyssengas unmittelbar folgen würde.
Und in der Tat: Auch die vorsichtige Strategie der STAWAG, zunächst von der WINGAS nur ein Drittel des Bedarfs zu beziehen und mit dem Rest bei der Thyssengas zu bleiben, wurde von dieser nicht akzeptiert. Sie klagte auf Einhaltung des Vertrages. Der Vertrag war konstruiert wie viele andere auf dem Gasmarkt auch: Ursprünglich enthielt dieser Vertrag aus dem Jahr 1984 eine Verpflichtung, den gesamten im Versorgungsgebiet anfallenden Gasbedarf nur von der Thyssengas zu beziehen, eine sogenannte „rechtliche Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung“. Anstelle dieser Klausel wurde nach einer Intervention des Kartellamtes im Jahre 1997 vereinbart, eine feste Vertragsmenge zu beziehen, die – welcher Zufall – genau der bisher insgesamt von der STAWAG bezogenen Menge entsprach, eine sogenannte „wirtschaftliche Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung“. Nur: Auch mit dieser Klausel wurde der wirtschaftliche Erfolg der vorherigen garantiert, nämlich keinen Wettbewerber ins Geschäft zu lassen. Nachdem nun der Vertrag der STAWAG mit der WINGAS abgeschlossen war, begehrte die Thyssengas beim Landgericht Köln die Feststellung, dass der Gasbezugsvertrag insgesamt wirksam sei. Aber: Die STAWAG obsiegte.96 Und auch in der nächsten Instanz, beim Oberlandesgericht Düsseldorf, unterlag die Thyssengas im November 2001.97 Das Gericht beschäftigte sich in seiner sehr gründlichen Entscheidung zunächst mit den gesamten Einzelheiten des Vertrages und des Marktes, auf dem er abgeschlossen war. Dann folgte eine Analyse der langfristigen Bezugsbindung, der der Kartellsenat des OLG attestierte, sie verstoße nicht nur gegen das deutsche Kartellrecht98, sondern auch gegen das entsprechende europäische Recht, nämlich die Art. 81 Abs. 1 und 2 EG. Das Verfahren hatte übrigens der inzwischen in Pension gegangene Vorsitzende der 8. Beschlussabteilung beim Bundeskartellamt, Markert, kritisch begleitet. In seiner Anmerkung zum Urteil des OLG Düsseldorf99 stellte er die Situation auf dem Gasmarkt und die dazu bereits vorliegenden Entscheidungen dar. Danach konnte es kaum zweifelhaft sein, dass das OLG rechtlich auf der absolut sicheren Seite war.
Diese Entscheidung war auch deswegen bedeutsam, weil das OLG Düsseldorf dasjenige Gericht ist, bei dem Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundeskartellamts landen. Das Bundeskartellamt hätte also, wäre es gegen langfristige Gaslieferverträge vorgegangen, sicher sein können, dass es beim OLG Düsseldorf gewinnt. Außerdem war bekannt geworden, dass auch das OLG Stuttgart der – späteren – Rechtsauffassung des OLG Düsseldorf zuneigte. Schon in einem Berufungsverfahren in einem Stromfall hatte das OLG Stuttgart nämlich zu erkennen gegeben, dass es die in einem Altvertrag vereinbarte Gesamtbedarfsdeckungsverpflichtung eines Weiterverteilers als Verstoß gegen § 1 GWB betrachtete.100 Auch in einem Gas-Fall, angepackt von dem tatkräftigen Geschäftsführer der Stadtwerke Schwäbisch Hall, Johannes van Bergen, beurteilte das OLG Stuttgart die Rechtsfrage im kommunalen Sinne.101 Im Revisionsverfahren vor dem BGH ließ dieser deutlich erkennen, dass auch er die Position der Stadtwerke und die Argumente ihrer Anwälte für richtig hielt. Außerdem argumentierte auch das Bundeskartellamt vor dem BGH im Sinne der Stadtwerke. Aber es kam zu keinem Urteil: Auf Betreiben der Ruhrgas, die wieder einmal das Füllhorn ausgeschüttet haben soll, wurde die Revision der Stadtwerke zurückgenommen. Eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs war damit verhindert.
Obwohl das Bundeskartellamt für eine nunmehr bundesweite Beanstandung der langfristigen Verträge sicheren Boden unter den Füßen gehabt hätte, rührte es sich nicht. Stadtwerke, die den Versorger wechseln und am Wettbewerb teilnehmen wollten, waren also nach wie vor auf eigenes Risiko unterwegs. Aktiv wurde das Amt erst mit einem Auskunftsersuchen vom 1.12.2003, mit dem es die Vertragsverhältnisse der in Deutschland tätigen 15 überregionalen und regionalen Ferngasunternehmen auf den Weiterverteilermärkten untersuchte. Und dann dauerte es weitere zwei Jahre, bis am 13.1.2006102 eine Verfügung gegen die Ruhrgas erging, mit der das Amt feststellte, dass verschiedene Gaslieferverträge der Ruhrgas hinsichtlich langjähriger Bezugsverpflichtungen und tatsächlicher Bedarfsdeckungen in ihrer Kombination gegen Art. 81, 82 EG und § 1 GWB verstießen. Die Ruhrgas wurde verpflichtet, die Durchführung solcher Verträge bis spätestens zum 30.9.2006 abzustellen – eine äußerst großzügige Übergangsfrist. Ferner wurde festgelegt, dass die Ruhrgas bei Verträgen mit einer Liefermenge von mehr als 200 GWh pro Jahr die Laufzeit nicht länger als vier Jahre festlegen dürfe, wenn der Bedarf des Abnehmers zwischen 50 bis 80 % liege, und nicht mehr als zwei Jahre, wenn der Bedarf 80 % überschreite. Klar: Die Ruhrgas klagte gegen diese Verfügung vor dem OLG Düsseldorf. Und sie verlor103; und genauso beim BGH.104 Damit waren die Verhältnisse geklärt – und die Ruhrgas konnte nicht mehr, wie bisher, die anderen Wettbewerber an die Wand drücken.
Aber was passierte: Das Bundeskartellamt erklärte knapp zwei Jahre später, auf eine Befragung von über hundert Marktteilnehmern verweisend – darunter große Gasgesellschaften, ausgewählte Wettbewerber und Kommunal- und Regionalversorger –, die Ruhrgas dürfe nun wieder Stadtwerke und Regionalversorger beliebig lange und intensiv an sich binden.105 Handlungsbedarf hatte bestanden, weil die Bindungswirkung der Verfügung, die bis zum 30.9.2010 befristet war, nicht verlängert werden sollte. Zugleich aber prangerte der neue Kartellamts-Präsident Mundt, nach der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb ins Amt gekommen, die „extreme Sozialschädlichkeit von Kartellen“ an.106 Der Beobachter wundert sich, die Wettbewerber der Ruhrgas ärgern sich, aber beim Amt herrscht offenbar die Erwartung, dass Ruhrgas in den vergangenen zwei Jahren den Wettbewerb geübt habe und auf den Geschmack gekommen sei ...
6. Netznutzung: Viel Bürokratie und wenig Wettbewerb
Eigentlich hatte der Wettbewerb beim Strom so schön angefangen: Nicht nur Yello, VASA, ENRON, Zeus, Riva, Best Energy traten an. Vielmehr gründeten auch E.ON mit der Marke E-WIE-EINFACH und RWE mit der Marke Eprimo Töchter zur Belieferung vor allem von Haushalts- und kleinen Gewerbekunden. Aber die Mehrzahl der Newcomer verschwand sehr schnell wieder vom Markt. Die Gründe waren mit Händen zu greifen:
– Der Netzzugang musste in vielen Fällen erst vor Gericht erstritten werden107;
– wegen der fehlenden Rechtsverordnung über die Gestaltung der Netznutzungsverträge gemäß § 6 Abs. 2 EnWG konnte jeder Netzbetreiber die einschlägigen Verträge autonom gestalten, was die Händler wiederum zwang, in monatelangen Verhandlungen Verträge für oft nur wenige Kunden auszuhandeln;
– oft wurden auf Basis des sogenannten „Doppelvertragsmodells“ Verträge des Netzbetreibers sowohl mit den neuen Lieferanten als auch mit den Endkunden verlangt;
– verlangt wurden auch Wechselentgelte, also Entgelte für das Handling des Versorgerwechsels;
– Kritikwürdig waren aber vor allem die Netznutzungsentgelte, die Spreizungen von bis zu 300 % aufwiesen und insgesamt überhöht waren, obwohl sie angeblich alle auf dem Kalkulationsleitfaden zur Verbändevereinbarung VV II und VV II plus basierten.
Die FAZ vom 27.4.2001 titelte in einem Bericht über die Newcomer: „Wir werden von den Versorgern